SonntagsBlick: 2018 haben wir vielleicht nur noch eine Bundesrätin. Sie sind 27 Jahre alt und Feministin: Sie müssen entsetzt sein!
Anne-Sophie Keller: Bei der Gleichstellung ist es immer so, dass es zwei Schritte vor- und einen zurückgeht. Nach den erfolgreichen Neunzigern richteten sich viele in der Vorstellung ein, dass die Gleichstellung jetzt erreicht sei. Das rächt sich nun.
Bisher fehlt ein Aufschrei.
Bundesratskandidat Ignazio Cassis sagte, er wäre als Frau beleidigt, würde er bloss gewählt, weil er eine Frau ist. Da gab es schon ein paar kritische Kommentare. Er ist ja der Quoten-Tessiner! Aber es gibt so viele Themen, bei denen ein Aufschrei angebracht wäre. Zum Beispiel bei sexueller Gewalt an Frauen.
Nur eine einzige Frau in der Landesregierung ist kein Grund für einen Aufschrei?
Doch, klar! Frauen müssen begreifen, dass Politik nicht nur Männersache ist. Schliesslich betreffen die Entscheide uns alle.
Was ist denn das Problem mit den Frauen und der Politik?
Jedes Mal, wenn Trump etwas unterschreibt, sehe ich all diese weissen, grauhaarigen Männer – furchtbar! Vor allem junge Frauen denken sich doch: Da gehöre ich nicht hin, da hat es ja keine wie mich.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass Frauen im Umgang untereinander wenig solidarisch sind. Sind wir selber schuld, dass wir nicht weiterkommen?
Das halte ich für eine schwierige Aussage: Der Umgang der Frauen untereinander hat mit ihrer Sozialisierung zu tun. Man wird schon als Mädchen abgestraft, wenn man laut und frech ist. Buben hingegen messen sich aneinander, beleidigen den anderen zwischendurch auch scherzhaft.
Und was hat das mit fehlender Solidarität zu tun?
Männer lernen auf diese Weise früh, mit Konflikten umzugehen, Frauen schlucken viel herunter und werden aus diesem Frust heraus destruktiv.
Sie wollten als Kind Popstar werden wie Britney Spears. Warum nicht Bundesrätin?
In meinem Leben kam chronologisch Britney Spears vor Micheline Calmy-Rey. Aber heute werden andere Frauen zu Vorbildern. In den USA etwa die Richterin Ruth Bader Ginsburg.
Sie können heute sagen: Ich will Bundesrätin werden!
Ich habe mir das schon überlegt. Aber ich bin 27 und kann mich noch tausend Mal neu erfinden. Gern auch als Politikerin.
Frauen werden oft über ihr Äusseres beurteilt. Warum?
Das ist auch eine Methode, mit der Männer die Frauen wieder auf ihre Plätze zurückzuverweisen suchen. Gerade bei Doris Leuthard ist das doch oft passiert: Diese charmante Aargauerin, hiess es. Oder es ging um ihre Haare, um ihr Kleidchen. Dafür habe ich kein Verständnis.
Für was genau?
Der männliche Wert ist Macht; der weibliche gutes Aussehen. Das behauptet schon das Magazin «Bravo»: Buben haben Muckis, Mädchen sind herzig geschminkt. Das ist Gehirnwäsche und irgendwann so tief drin, dass du es gar nicht mehr hinterfragst.
Wie wichtig ist Ihnen Ihr eigenes Aussehen?
Ich schminke mich nicht nur für mich selber. Ich habe gelernt, dass ich gewisse Abstriche an den Feminismus machen muss für Dinge, die mir sehr wichtig sind. Geschminkt erreiche ich manchmal mehr. Man kann das als inkonsequent bezeichnen. Ich stehe dazu.
Was müssen Frauen tun, damit Frauen in der Politik zur Selbstverständlichkeit werden?
Es fängt damit an, wie wir Mädchen oder Buben heute erziehen. Wir sollten Mädchen nicht sagen, dass Rechnen etwas für Buben ist. Und die Buben in sozialen Fähigkeiten fördern. Es geht darum, Kinder jenseits diskriminierender Rollenmuster aufzuziehen. Damit Mädchen irgendwann sagen: Ich kann werden, was ich will – auch Bundesrätin!
In welcher Alltags-Situation denken Sie: Der Weg zur Gleichberechtigung ist noch weit?
Wenn mir Männer im Tram sagen: Lach doch mal! Ich schulde niemandem ein Lächeln. Den ganzen Tag wird mir doch schon eingetrichtert, dass ich mich optimieren muss. Und dann muss ich mir von einem Wildfremden anhören, was ich mit meiner Mimik machen soll? Da spiele ich nicht mit.
Haben Männer Angst vor Ihnen?
Hoffentlich (lacht)!
Welche Frau bewundern Sie?
Iris von Roten, weil sie furchtlos war und die Vehemenz hatte, für ihre Themen einzustehen.
Sind Sie selber furchtlos?
Wer als 27-Jährige in der Öffentlichkeit den Mund aufmacht, muss einstecken könnten. Das geht hin bis zu Vergewaltigungs- oder Morddrohungen und sonstigen Perversitäten. Es ist fast unerträglich! Ich bewundere furchtlose Mitstreiterinnen wie zum Beispiel Juso-Präsidentin Tamara Funiciello. Doch die Sache ist es uns wert.
Fabienne Amlinger sagt, es sei für Frauen schwierig und unattraktiv, in die Politik hineinzukommen. Grund dafür, so die Historikerin und Geschlechterforscherin der Universität Bern, sei das seit Entstehung des modernen Bundesstaats 1848 von männlichen Regeln, Normen und Codes dominierte politische System: «Es ist hart für Frauen, sich da zu behaupten!»
Dabei sei empirisch nachgewiesen, dass Frauen andere politische Themen einbringen als Männer. Kein Wunder: Ein Leben als Frau zu führen sei anders, als das Leben eines Mannes zu leben.
Nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971 kam beispielsweise das Thema einer Mutterschaftsversicherung wieder auf. Amlinger: «Ich bezweifle, dass jemals über die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs gesprochen wurde, bis Frauen diese Debatte ins Parlament trugen.»
Damit in der Politik überhaupt etwas in die Gänge kommt, müsse ein Gremium, das von einer Gruppe dominiert wird – in diesem Fall von Männern –, mindestens einen Anteil von 30 Prozent der anderen Gruppe aufweisen. Nur durch die angemessene Vertretung von Frauen können sich Strukturen und Normen ändern. Der Frauenanteil im Parlament überschritt bei den Nationalratswahlen 2015 die 30-Prozent-Marke, im Ständerat sank er auf 15 Prozent. Für die Historikerin ist es ein Demokratiedefizit, wenn Frauen nicht angemessen vertreten sind in der Politik. «Es geht doch darum, dass alle sozial relevanten Gruppen Anteil haben an den politischen Entscheidungsfindungsprozessen! Frauen sind mit 50 Prozent eine sozial relevante Gruppe.» Und das sei die Ironie an der ganzen Sache: «Gerade die Schweiz, die sich so gern als Vorzeige-Demokratie inszeniere, verstösst gegen eine der demokratischen Prämissen.»
Fabienne Amlinger sagt, es sei für Frauen schwierig und unattraktiv, in die Politik hineinzukommen. Grund dafür, so die Historikerin und Geschlechterforscherin der Universität Bern, sei das seit Entstehung des modernen Bundesstaats 1848 von männlichen Regeln, Normen und Codes dominierte politische System: «Es ist hart für Frauen, sich da zu behaupten!»
Dabei sei empirisch nachgewiesen, dass Frauen andere politische Themen einbringen als Männer. Kein Wunder: Ein Leben als Frau zu führen sei anders, als das Leben eines Mannes zu leben.
Nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971 kam beispielsweise das Thema einer Mutterschaftsversicherung wieder auf. Amlinger: «Ich bezweifle, dass jemals über die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs gesprochen wurde, bis Frauen diese Debatte ins Parlament trugen.»
Damit in der Politik überhaupt etwas in die Gänge kommt, müsse ein Gremium, das von einer Gruppe dominiert wird – in diesem Fall von Männern –, mindestens einen Anteil von 30 Prozent der anderen Gruppe aufweisen. Nur durch die angemessene Vertretung von Frauen können sich Strukturen und Normen ändern. Der Frauenanteil im Parlament überschritt bei den Nationalratswahlen 2015 die 30-Prozent-Marke, im Ständerat sank er auf 15 Prozent. Für die Historikerin ist es ein Demokratiedefizit, wenn Frauen nicht angemessen vertreten sind in der Politik. «Es geht doch darum, dass alle sozial relevanten Gruppen Anteil haben an den politischen Entscheidungsfindungsprozessen! Frauen sind mit 50 Prozent eine sozial relevante Gruppe.» Und das sei die Ironie an der ganzen Sache: «Gerade die Schweiz, die sich so gern als Vorzeige-Demokratie inszeniere, verstösst gegen eine der demokratischen Prämissen.»