Angriff auf Cassis – Tessiner Politiker schwer verärgert
«Das ist peinlich für die Schweiz»

Regenwetter-Stimmung in der Sonnenstube: Der Grünen-Angriff auf den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis sorgt im Tessin bei vielen Politikerinnen und Politikern für Unmut.
Publiziert: 22.11.2019 um 14:38 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2019 um 14:40 Uhr
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Angriff auf Cassis' Bundesratssitz: Die Tessiner Ex-Staatsrätin Laura Sadis findet klare Worte.
Foto: Ti-Press

Die ehemalige Tessiner FDP-Staatsrätin und Nationalrätin Laura Sadis (56) weiss, wie Politik funktioniert. Dass die Grünen zum Angriff auf den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis (58) blasen, überrascht sie deshalb nicht. «Ich verstehe, dass die Grünen aufs Gaspedal drücken. Sie haben nichts zu verlieren», sagt sie. Aber trotzdem: «Das ist nicht nur traurig, sondern peinlich für die Schweiz.»

Sadis ist bei weitem nicht die einzige Tessinerin, bei der die Ankündigung von Grünen-Präsidentin Regula Rytz (57), ins Bundesrats-Rennen steigen zu wollen, für Verstimmung sorgt. Mit der Wahl von Cassis in den Bundesrat im November 2017 hat erstmals nach fast 20 Jahren wieder ein Vertreter der italienischsprachigen Schweiz in der Regierung Einsitz genommen.

Rytz räumte ein, dass sie verstehen kann, wenn das Vorpreschen der Grünen im Tessin darum «nicht nur Freude auslöst». Aber: «Es wird schwierig sein, immer alle berechtigten Ansprüche gleichzeitig zu erfüllen.» Nun hätten die Grünen Priorität.

Angriff sei respektlos

Das sehen im Tessin viele anders. CVP-Nationalrat Marco Romano (37) tobt. Rytz (57) brauche Nachhilfe in Staatskunde, sagt er gegenüber «CH Media». Dass sie es wagt, den Sitz des Tessiners Ignazio Cassis anzugreifen, zeuge von Respektlosigkeit gegenüber der Vielfalt der Schweiz: «In der Verfassung steht ganz klar, dass die Landessprachen und Landesgegenden angemessen vertreten sein müssen.»

Darauf verweist auch Ex-Regierungsrätin Sadis. «Klar heisst das nicht, dass es immer einen Bundesrat aus der italienischsprachigen Schweiz geben muss. Aber nach fast zwanzig Jahren schon.» Es könne nicht sein, dass Cassis nun bereits nach zwei Jahren wieder nach Hause geschickt werde.

Die verschiedenen Landesteile seien eine Bereicherung für die Schweiz, deren Vertretung im Bundesrat ebenso. «Er bringt etwas von unserer Kultur, Sprache und Region in die Regierung, das ist eine Bereicherung.» Das Tessin sei stolz auf seinen Bundesrat.

«Tessiner politisieren anders»

Umso schmerzlicher wäre deshalb seine Abwahl für den Kanton auf der anderen Seite des Gotthards. Ex-SP-Nationalrat Franco Cavalli (77) zeigt sich zwar überzeugt, dass sich im Falle einer Abwahl von Cassis später wieder neue Möglichkeiten eröffnen würden. Schmerzen würde es ihn aber schon, keine Tessiner Vertretung mehr im Bundesrat zu haben, räumt er in den «CH Media»-Zeitungen ein. «Tessiner politisieren anders. Und dieser Stil wird von den Deutschschweizern nicht immer goutiert.»

Dass ein Tessiner im Bundesrat wichtig ist, findet auch Marco Solari (75), Präsident des Filmfestivals Locarno und langjähriger Präsident des kantonalen Tourismusbüros. Dass Cassis sich von vielen missverstanden fühlt, wie er im Interview mit dem SonntagsBlick sagte, kann er nachvollziehen. Im Tessin herrsche beispielsweise eine andere Diskussionskultur, sagte er jüngst im «Tages-Anzeiger». Cassis sei sich gewohnt, Debatten zu provozieren, weil diese im Süden Teil der Lösung und der Lebensfreude seien.

Solari wirft der Deutschschweiz mangelnde Sensibilität gegenüber dem Kanton vor. «Die Deutschschweiz hat noch nicht gemerkt, dass sie gegenüber dem Tessin eine historische Schuld trägt», sagt er. «Drei Jahrhunderte unter Deutschschweizer Landvögten haben einen mausarmen Kanton mit Hungersnöten, ohne Strassen oder Schulen hinterlassen. Kolonialpolitik pur.»

Grüne Greta im Dilemma

Der Tessiner Lega-Staatsrat Norman Gobbi (42) dürfte ihm zustimmen. «Wie wichtig ist die dritte Schweiz für die ganze Schweiz, und wie wichtig ist es, den Wert der Minderheiten zu anerkennen?», fragt er gegenüber «CH Media» rhetorisch. «Wenn Sie diese Frage beantworten, können Sie verstehen, wie wichtig es ist, einen Bundesrat für die italienische Schweiz zu haben.»

Grüne oder Tessiner – die Fraktionen, ja jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier muss für sich entscheiden, wessen Anspruch sie oder er höher gewichtet. Für eine wird die Entscheidung besonders schwierig: die Tessiner Grünen-Nationalrätin Greta Gysin (36).

Sie will sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festlegen. «Beide Aspekte sind wichtig», sagt sie auf Anfrage von BLICK. «Auf der einen Seite sollten die Sprachregionen im Bundesrat angemessen vertreten sein. Auf der anderen Seite sind die Grünen in der Regierung unterrepräsentiert, die FDP hingegen stark überrepräsentiert.»

Die Grünen könnten aber, findet Gysin, einen grossen Beitrag leisten zur Lösung der Probleme im Tessin, beispielsweise zum Thema Lohn- und Arbeitsschutz oder zur Luftverschmutzung. Ein Trostpflästerli, das im Falle einer tatsächlichen Abwahl von Cassis allerdings nur auf linker Seite helfen dürfte. (lha/myt)

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