Stolz ist er, alt Bundesrat Pascal Couchepin (76). Stolz auf «sein» Martigny VS, jene Gemeinde, in der er geboren wurde und in den 60er-Jahren seine politische Karriere im Gemeinderat lancierte. Hier in diesem freisinnigen Bollwerk empfängt der Doyen der FDP SonntagsBlick zum Interview. Der streitlustige Walliser diskutiert mit ungebrochener Leidenschaft über die Schweizer Politik. Selbst wenn das bedeutet, auch einmal der SVP recht geben zu müssen.
Herr Couchepin, die Anfänge der Diskussion über einen Rahmenvertrag mit der EU haben Sie noch als Bundesrat erlebt. Dachten Sie damals, dass sich die Verhandlungen so lange hinziehen würden?
Pascal Couchepin: Zu Beginn war es eine offene und intelligente Diskussion ohne besondere Eile. Allmählich wurde es dann zu einem grossen Problem. Dazwischen geschah Bedauerliches – nicht nur in der Schweiz, sondern überall auf der Welt: Die Politiker begannen, rote Linien zu ziehen, etwa Obama im syrischen Bürgerkrieg. Kaum eine dieser roten Linien hat lange überlebt.
Die FDP hat in ihrem Europapapier genau solche roten Linien gezogen.
Meine liebe FDP ist auch ein Kind ihrer Zeit (lacht).
Was haben Sie gegen roten Linien?
Wie wollen Sie da noch diskutieren und verhandeln? Rote Linien darf es in einem Exekutivgremium wie dem Bundesrat eigentlich nicht geben. Das Leben funktioniert nicht so stur. Nicht, dass man alles akzeptieren soll, aber Dogmen funktionieren nicht in der Politik.
War es denn richtig von Ignazio Cassis, die roten Linien der flankierenden Massnahmen zur Debatte zu stellen?
Cassis sagt: Wichtig ist das Ziel, wichtig sind nicht die Mittel. Das ist gesunder Menschenverstand. Der bilaterale Weg ist wichtig, wir wollen zugleich so viel Souveränität wie möglich behalten. Jede Verhandlung verlangt Konzessionen von beiden Seiten. Am Ende kann man dann das Ergebnis beurteilen.
Beim Thema Lohnschutz beharren die Gewerkschaften auf roten Linien. Können Sie das akzeptieren?
Ich bin für die flankierenden Massnahmen. Aber soll das Schicksal des Landes von einer achttägigen Meldefrist für ausländische Firmen abhängen, die hierzulande Aufträge ausführen wollen? Wenn das Wohl der Schweiz daran festgemacht wird, sind wir entweder ein armes oder ein sehr glückliches Land. Oder beides zugleich.
Nochmals: Hatte Cassis recht, als er die flankierenden Massnahmen zur Diskussion stellte?
Er hat die Wahrheit gesagt. Ob das geschickt war, ist eine andere Frage. Ein Rahmenvertrag wäre wünschbar und intelligent, allein schon für unsere Exportwirtschaft. Aber auch hier sollten wir keine roten Linien ziehen.
Glauben Sie, dass die Gewerkschaften einlenken werden?
Die meisten Gewerkschafter sind Patrioten. Wenn sich eine Lösung findet, die besser ist als die heutige Acht-Tage-Regel, werden sie mitmachen. Ich jedenfalls hatte immer gute Beziehungen zu ihnen. Aber vielleicht haben sich die Zeiten geändert.
Ein anderes Thema: Sind Sie zufrieden mit der Vertretung der Romandie im Bundesrat?
Alain Berset ist ein hervorragender Bundespräsident. Seine Aufgabe, die Altersvorsorge zu reformieren, ist eine sehr schwierige. Und Guy Parmelin ist sehr volksnah, die Menschen vertrauen ihm.
Die Sicherung der Renten ist Bersets grosse Aufgabe. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint das Rentenalter 65 für Frauen zu befürworten. Aus dem Ständerat stammt der Vorschlag, die Steuerreform mit einem Beitrag an die AHV zu koppeln. Was halten Sie von diesem «Deal»?
Er verstösst gegen die Verfassung. Die Einheit der Materie wird verletzt. Zweitens wird die AHV langfristig nicht entlastet, im Gegenteil. Hier soll eine Generation, zu der auch ich gehöre, gegenüber den Jungen bevorzugt werden. Eine Scheinlösung. Gott behüte, ich bin der gleichen Meinung wie Thomas Aeschi (lacht)! Aber in diesem Punkt hat er recht.
Sie haben früh gesagt, dass eine Erhöhung des Rentenalters nötig sein würde.
Ich habe das zur Debatte gestellt. Vielleicht muss eine solche Erhöhung gestaffelt stattfinden. Sehen Sie, überall braucht es mehr Geld: für die Verteidigung, die Forschung, das Gesundheitssystem. Und für ein kleines Land wie die Schweiz ist es schlicht besser, nicht allzu viele Schulden zu haben.
Seit der Wahl von Ignazio Cassis in den Bundesrat neigt die Landesregierung stärker nach rechts, etwa bei den Waffenexporten. Wie sehen Sie dieses stärkere Zusammengehen von SVP und FDP?
Ach, das ist doch lächerlich! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aus linker Sicht soll die FDP die Meinung der SP vertreten, sonst gilt sie schon als rechts aussen.
War die Konfrontation mit der SVP zu Ihrer Zeit im Bundesrat nicht schärfer?
Die SVP war damals mit Christoph Blocher vertreten, er war die Verkörperung der Parteidoktrin. Aber er war pragmatischer, als es den Anschein hatte. Man konnte mit ihm arbeiten.
Sie sind der «Grande Nation» eng verbunden – und sogar Offizier der französischen Ehren-legion. Mit Emmanuel Macron ist nun ein junger Präsident im Amt, den viele als Europas Hoffnungsträger betrachten. Was halten Sie von ihm?
Macrons grosses Problem ist, dass er keine grosse Partei im Rücken hat. Aber in jeder Demokratie braucht es solche Strukturen.
Die Bindungen der Wähler an die traditionellen Parteien sind heute nicht mehr so eng wie einst.
Sicher. Die Parteien wurden im 19. Jahrhundert geboren. Sie sind nicht mehr so innovationsfreudig. Aber man braucht sie – und Macron hat eben keine.
Pascal Couchepin wurde 1942 in Martigny VS geboren, wo der studierte Jurist von 1984–1998 Stadtpräsident war. Ab 1979 sass er für die FDP im Nationalrat, von 1989–1996 dirigierte er die freisinnige Bundes-hausfraktion. Zwei Jahre später wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Dort führte der Walliser bis 2002 das Wirtschaftsdepartement, anschliessend bis zu seinem Rücktritt 2009 das Departement des Innern.
Pascal Couchepin wurde 1942 in Martigny VS geboren, wo der studierte Jurist von 1984–1998 Stadtpräsident war. Ab 1979 sass er für die FDP im Nationalrat, von 1989–1996 dirigierte er die freisinnige Bundes-hausfraktion. Zwei Jahre später wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Dort führte der Walliser bis 2002 das Wirtschaftsdepartement, anschliessend bis zu seinem Rücktritt 2009 das Departement des Innern.