BLICK: Frau Widmer-Schlumpf, viele Ältere haben Angst, sich mit Corona anzustecken. Wie hilft Pro Senectute?
Eveline Widmer-Schlumpf: Ganz praktisch. Pro Senectute unterstützt ältere Menschen beispielsweise mit dem Einkaufsdienst Amigos und indem wir Besuchs- und Begleitdienste oder Haushaltshilfen organisieren. Dabei sind wir darauf angewiesen, dass wir die rund zwei Drittel der über 65-jährigen Helferinnen und Helfer einsetzen dürfen. Ohne diese ginge es nicht. Wir merken aber, dass sich in der zweiten Welle die Ansprüche gegenüber der ersten verändert haben.
Wie?
Ältere Leute suchen jetzt mehr Kontakt als im Frühling. Unsere 24 kantonalen Organisationen haben ihre Online- und Beratungsangebote ausgebaut. Viele Leute sind allein zu Hause und wollen nicht den Nachbar oder immer wieder Angehörige fragen. Für diese sind wir da.
Haben Sie in Ihrem Umfeld Personen, die eine Corona-Erkrankung durchmachen mussten?
In der engsten Familie bislang nicht. Aber auch ich musste mich schon testen lassen – besser gesagt, ich war dankbar dafür, dass ich einen Test machen konnte. Aber in der weiteren Verwandtschaft hatten wir sogar einen 96-Jährigen, der Corona durchmachte. Es geht ihm wieder gut.
In der ersten Welle gab es Besuchsverbote in Altersheimen, um Ältere zu schützen.
Für Menschen in den Heimen ist die Isolation das Schlimmste. Die Angehörigen nicht mehr sehen zu können, löst grosses Leiden aus. Daher nehmen einige von ihnen lieber das Risiko auf sich, an Corona zu erkranken. Ich habe aus meinem Umfeld gehört, Ältere hätten in einer Patientenverfügung festgehalten, dass sie auf einen Intensivpflegeplatz im Spital verzichten würden. Sie möchten lieber im Heim bleiben. Der Tod ist Hochbetagten in den Altersheimen näher. Aktuell ist es so, dass in verschiedenen Altersheimen fast jede Woche wieder jemand fehlt. Das macht es für alle emotional sehr schwierig.
Auch für die Angehörigen?
Ja, auch für diese. Daher ist es wichtig, dass hinreichende Schutzvorkehrungen getroffen werden, damit die Angehörigen in den letzten Stunden bei ihren Lieben sein können. Es kann ja nicht sein, dass ein Abschied in dieser Situation nicht möglich ist.
Eveline Widmer-Schlumpf (65) gehörte während ihrer Zeit im Bundesrat zu den beliebtesten Magistraten. Gleichzeitig war die Juristin ein rotes Tuch für die SVP, weil sie die Abwahl von Christoph Blocher (80) ermöglicht hatte. Tabubrecherin war sie schon zuvor: 1998 wurde sie erste Frau im Bündner Regierungsrat. Seit 2017 ist sie Präsidentin von Pro Senectute und engagiert sich für Seniorinnen und Senioren.
Eveline Widmer-Schlumpf (65) gehörte während ihrer Zeit im Bundesrat zu den beliebtesten Magistraten. Gleichzeitig war die Juristin ein rotes Tuch für die SVP, weil sie die Abwahl von Christoph Blocher (80) ermöglicht hatte. Tabubrecherin war sie schon zuvor: 1998 wurde sie erste Frau im Bündner Regierungsrat. Seit 2017 ist sie Präsidentin von Pro Senectute und engagiert sich für Seniorinnen und Senioren.
Corona ist aus dem Ruder gelaufen. Es sterben viel zu viele Menschen in der Schweiz. Laut Finanzminister Ueli Maurer hat der Bundesrat hier eine «Güterabwägung» getroffen.
Der Begriff «Güterabwägung» ist in diesem Zusammenhang unmöglich. Es ist mir nicht bekannt, was es für eine Einheit gibt, mit der man Menschenleben und wirtschaftliches Wohlergehen vergleichen könnte. Ich sehe hier keine Güter, die gleichwertig sind, die man aber nicht gleichzeitig verwirklichen kann.
Herr Maurer wollte zum Ausdruck bringen, dass man wirtschaftlich nicht alles tun kann. Es wird so oder so immer Ansteckungen geben.
Ein Leben kann man nicht einfach aufrechnen. Man muss prüfen und entscheiden, wie viele Einschränkungen es braucht, um möglichst wenig vom Virus betroffene Menschen zu haben. Es ist eine Planung zum Wohl aller. Es geht nicht darum, dass wir der Wirtschaft schaden, um Menschenleben zu retten. Nur wenn wir akute Gesundheitsprobleme lösen, kann die Wirtschaft wieder richtig funktionieren. Und sie funktioniert nicht, wenn dauernd ein Teil der Arbeitskräfte krank oder in Quarantäne ist. Für mich gibt es hier keinen Gegensatz. Die Frage ist doch: Wie haben wir möglichst viele gesunde Leute, die dafür sorgen können, dass es mit der Wirtschaft vorwärtsgeht?
Die wissenschaftliche Taskforce fordert einen raschen Lockdown. Und Sie?
Länder wie Norwegen haben einen kurzen, harten Lockdown gemacht. Sie konnten rasch wieder hochfahren. Das hat sich laut dortigen Unternehmern bewährt. Besser, man trifft eine harte, zeitlich begrenzte Massnahme, als über lange Zeit eine grosse Ungewissheit aufrechtzuerhalten. Ich frage mich, warum man nicht schon im Oktober oder November wie in der Romandie möglichst viel heruntergefahren hat. Jetzt vor den Festtagen zu diskutieren, was wir alles nicht tun dürfen oder zwar dürfen, aber nicht machen sollen, ist viel schwieriger.
Ökonom Jan-Egbert Sturm sagt, jetzt sei der richtige Zeitpunkt für einen Lockdown.
Für Unternehmen stimmt das wohl. Das kann Herr Sturm viel besser beurteilen als ich. Aber der Wintertourismus hätte den Lockdown wohl lieber im November gehabt.
Hier spricht die Bündnerin.
Ich stelle sachlich fest, dass Wintersportgebiete im Dezember und Anfang Januar ihre wichtigste Zeit haben, während Firmen aus anderen Bereichen über Weihnachten und Neujahr in der Regel geschlossen sind oder reduziert arbeiten. Aber wir können nicht diesen oder jenen entgegenkommen. Es braucht jetzt Massnahmen für und von allen. Wissen Sie …
… was?
Dem Virus ist es egal, ob im sankt-gallischen Bad Ragaz etwas anderes gilt als im nahegelegenen, aber bündnerischen Maienfeld. Föderalismus ist in der Pandemie schwierig. Es braucht jetzt rasch Massnahmen, die für alle gelten.
Was erwarten Sie also am Freitag vom Bundesrat?
Ich hoffe, dass er jetzt eindeutige Ansagen macht und Klarheit schafft. Ungewissheit schafft Unsicherheit. Das schafft eine Stimmung, in der die Menschen immer weniger bereit sind, sich weiter einzuschränken. Es braucht jetzt Einschränkungen von allen, ansonsten wird die Situation noch schlimmer.
Täglich sterben 100 Leute an Corona. Lässt man das zu, weil sie älter sind?
Dass die Opfer jetzt thematisiert werden, zeigt, dass sich in den letzten Tagen doch etwas verändert hat. Das kommt nicht von ungefähr: Wir sind nun eine Gemeinschaft von Angehörigen von Corona-Toten. Viele haben eine Mutter oder einen Grossvater verloren.
Dennoch, die Entrüstung wäre grösser, wenn vor allem Jüngere sterben würden.
Ich frage mich einfach, wer denn in einer Gesellschaft leben möchte, in der man den Wert eines Lebens am Alter einer Person misst. Auch junge Leute werden mal älter. Vielen jungen Menschen sind solche Gedanken fremd. Sie wollen ihre Grosseltern und andere betagte Menschen schützen. Sie sehen, was Ältere leisten für die ganze Familie und die Gesellschaft.
Ständerat Andrea Caroni sagte, er wäre froh, wenn er das durchschnittliche Alter der Corona-Toten erreichte.
In der Eile des Gefechts macht man manchmal etwas unüberlegte Aussagen. Die Situation ist auch für die Politik neu und der Umgang mit solch existenziellen Fragen nicht alltäglich. Ich könnte mir vorstellen, dass bei gewissen Aussagen nicht immer reflektiert wurde, welche Haltung diese eigentlich transportieren könnte. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir sprechen hier über den Wert eines Menschen jenseits des 80. Lebensjahres. Das darf man meiner Meinung nach so nicht machen!
Aber genau das passiert.
Leider. Wenn sich aber ältere Personen für sich, freiwillig, ohne Druck entscheiden, dass sie nicht mehr wollen, dann ist ein solcher Entscheid zu respektieren. Genauso haben wir zu respektieren, wenn eine über 80-jährige Person länger leben möchte.
Machen wir uns schuldig am Tod älterer Menschen?
Lassen Sie mich das so sagen: Wir haben versucht, für alle erträgliche und wenig einschneidende Massnahmen durchzusetzen. Damit sind wir sehr schnell in eine sehr hohe zweite Ansteckungswelle gerutscht. Weil dieser Versuch gescheitert ist, leiden jetzt alle. Wenn wir nun härtere Massnahmen ergreifen, müssen wir schnell und unbürokratisch diejenigen unterstützen, die darunter wirtschaftlich leiden.
Das kostet uns aber enorm viel!
Natürlich ist das sehr viel Geld, das man jetzt investieren muss. Aber überlegen Sie sich, was volkswirtschaftlich passiert, wenn diese Situation noch Monate so andauert. Wo stehen wir dann in einem Jahr? Der Schaden wäre viel grösser. Die Schweiz hat die Mittel, es zu schaffen!
Wie viele Milliarden Unterstützung kann sich die Schweiz leisten?
Diese Frage kann ich so nicht beantworten. Das ist enorm schwierig. Jan-Egbert Sturm spricht davon, die Schweiz könne 100 Milliarden Franken schultern. Für mich geht es nicht um die reine Zahl, sondern darum, wie viel Geld es braucht, um sicherzustellen, dass jene Betriebe überleben, die wegen eines neuerlichen Lockdowns leiden. Es braucht jetzt Mut von allen, um effiziente Massnahmen durchzusetzen und die Betriebe zu stützen.
Ökonomen sagen, die Schweiz werde nach der Krise wieder rasch auf die Beine kommen. Glauben Sie daran?
Davon bin ich überzeugt – aber nur, wenn wir jetzt die notwendigen Finanzhilfen sprechen. Wir glauben an uns und gehen oft auch davon aus, schwierige Situationen allein meistern zu können. Mit Bezug auf das Virus hat die Schweiz gelernt, dass wir genauso getroffen werden wie andere Länder. Unsere Mentalität wird uns aber helfen, auch wieder aus dieser Situation herauszukommen.
Hilft uns die Impfung? Raten Sie dazu?
Jeder muss selbst entscheiden, ob er geimpft werden will. Es gibt Leute, die lieber das Risiko auf sich nehmen, an Corona zu erkranken und vielleicht sogar zu sterben. Menschen, die Vorbelastungen haben, aber noch nicht hochaltrig sind, würde ich die Impfung empfehlen.
Und wie sollen wir Weihnachten feiern?
Das ist ein Entscheid, den man in der Familie fällen muss. Will man jemanden allein zu Hause lassen über die Festtage und ihn so schützen? Gibt es einen anderen Weg, diese Person zu kontaktieren? Wenn jemand vorbelastet ist, ist es wohl ratsam, auf ein Weihnachtsfest wie bisher zu verzichten. Diese Eigenverantwortung kann man niemandem abnehmen, auch nicht den älteren.
Wie feiern Sie selbst Weihnachten?
Auch anders als sonst. Wir haben drei Kinder, zwei davon haben wieder Kinder. Wir haben früher alle miteinander samt den sechs Enkeln gefeiert – diesmal nicht. Wir feiern jetzt gestaffelt. Auch das ist schön.