SonntagsBlick: Sie treten bei den Gewerkschaften und bei der Auns auf. Gefällt es Ihnen bei den Gruppierungen, die die Europapolitik blockieren?
Micheline Calmy-Rey: Ich nehme gerne Einladungen an, wenn meine Überlegungen gefragt sind. Und mit Blick auf den Vertragsentwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU muss man sich gewisse Fragen stellen.
Die da wären?
Der Bundesrat hat die umstrittenen Punkte klar umrissen: den Lohnschutz, die staatlichen Beihilfen und die Unionsbürgerrichtlinie. Jetzt sollte die Landesregierung klarmachen: Wir müssen nachverhandeln.
Aber genau das tut der Bundesrat nicht, er spricht von Präzisierungen.
Noch nicht. Das kommt noch!
Wie könnte Ihrer Meinung nach der Stillstand in diesen Verhandlungen überwunden werden?
Die Blockade kann gelöst werden. Aber man muss sich Zeit nehmen, um einen innenpolitischen Konsens zu bilden, dieser ist entscheidend. Das Volk hat das letzte Wort. Und der jetzige Entwurf hat keine guten Chancen an der Urne.
Aber eben dieser Konsens liegt in weiter Ferne.
Das ist die Herausforderung. Die strittigen Punkte des Abkommens sind seit Jahren bekannt, aber die Politik hat sie zu lange ignoriert, der Bundesrat zu lange nichts gesagt. Wir leben in Unsicherheit über die konkreten Auswirkungen des ausgehandelten Abkommens, von denen viele bisher nicht ernsthaft diskutiert worden sind, obwohl sie schon lange bekannt sind.
Wie könnte ein Kompromiss denn aussehen?
Meine Überlegungen sind nicht sehr originell (lacht). Nehmen wir die Streitbeilegung: Das gemeinsame Schiedsgericht ist eine gute Sache. Aber die EU versucht uns in ihr sich ständig weiterentwickelndes Rechtssystem zu bewegen. Es besteht die Möglichkeit, dass am Ende der Europäische Gerichtshof verbindlich entscheidet. Ich bin mit dem Prinzip der Streitbeilegung einverstanden, aber es braucht Schutzmassnahmen: Der Schutz der Arbeitnehmer darf nicht vermindert werden. Die Schweiz sollte am besten ein geändertes Streitbeilegungsverfahren vorschlagen, das keine explizite Rolle des Europäischen Gerichtshofes vorsieht.
Und weiter?
Darüber hinaus verschafft die Ausdehnung der Guillotine-Klausel der EU ein Druckmittel, indem ein Streitfall das ganze Vertragswerk in Frage stellen kann. Diese Klausel gehört begrenzt oder abgeschafft. Dann bin ich mit der Streitbeilegung einverstanden.
Die Gewerkschaften sehen den Lohnschutz gefährdet. Kann es sein, dass eine Voranmeldefrist für ausländische Betriebe die Beziehungen zur EU belastet?
Es geht nicht um die Länge irgendeiner Frist, sondern um die Grundsatzfrage des anwendbaren Rechts: EU-Recht ja oder nein. Die EU hat ganz andere Ansichten bezüglich Staatswesen oder Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Die spezifische Rolle des Europäischen Gerichtshofes entwertet die Unabhängigkeit des Schiedsgerichts.
Brüssel sagt klar: Es gibt diesen Vertrag oder keinen.
So sicher bin ich nicht, das ist Verhandlungstaktik. Wenn es uns gelingt, die Arbeitsbedingungen und Löhne in der Schweiz zu schützen und einen geänderten Streitmechanismus zu schaffen, kommt ein Abkommen zustande. Daran haben alle ein Interesse. Auf der anderen Seite kann die Schweiz mehr leisten: zum Beispiel mit einer Erhöhung der Kohäsionsmilliarde.
Warum sollte die EU diesem Vorschlag zustimmen?
Sicher kann man nie sein. Druckversuche sind bei Verhandlungen normal. Und die EU ist nun einmal stärker. Für die Union hat derzeit der Brexit Priorität. Weder Grossbritannien noch die Schweiz können mit Zugeständnissen rechnen. Wir müssen Geduld haben. Ein gutes Resultat ist besser als ein schnelles.
Wichtige Branchen der Wirtschaft warnen, die Schweiz müsse sich beeilen.
Ein Nein zum Rahmenvertrag durch das Volk ist aber auch keine Lösung, im Gegenteil. Dann wäre die Blockade noch schwieriger zu lösen. Der Bundesrat muss sich nun engagieren und aktiv einen Konsens finden. Ich teile aber die Meinung derer, die sagen, dass der Status quo keine Alternative darstellt.
Der Bundesrat ist sich aber nicht einig.
Konfrontiert mit dem Verhandlungsergebnis, befinden wir uns nun in einer Phase, in der wir diskutieren und debattieren – auch im Bundesrat.
Also ist es kein Problem, wenn manche Mitglieder der Landesregierung das Verhandlungsergebnis kritisieren?
Manchmal tut sich auch der Bundesrat schwer, eine gemeinsame Linie zu finden. Aber das nach aussen zu tragen, schwächt unsere Position.
Auch Ihre SP ist sich nicht einig: Sie kritisiert den Vertragsentwurf, zugleich ist ein EU-Betritt weiterhin im Parteiprogramm festgeschrieben. Soll die Partei daran festhalten?
Ein Beitritt bleibt eine Option. Der Bundesrat hat aber den bilateralen Weg zur Priorität erklärt. Ich habe gemerkt, dass eine politische Annäherung an die EU bei vielen Menschen Ängste weckt, was dies für den Föderalismus, für die direkte Demokratie bedeutet. Viele Menschen denken, dass die Schweiz verschwinden würde in der Union. Auch wenn wir innerhalb der EU mehr Einfluss hätten als heute.
Angenommen, es findet sich keine Lösung beim Rahmenvertrag: Wäre ein Beitritt für Sie in diesem Fall denkbar?
Eine mögliche Option, ja. Genauso wie der EWR oder ein Freihandelsabkommen, wie es die Kanadier abgeschlossen haben. Die Europapolitik ist ständig neu zu beurteilen.
Wie ist es eigentlich möglich, dass die Europapolitik derzeit im Wahlkampf kaum eine Rolle spielt?
Die Meinungen in den Parteien sind noch nicht gemacht. Da ist es schwierig, das Abkommen zu thematisieren.
Dafür hat das Parlament abermals die Zahlung der Kohäsionsmilliarde verschoben – aus Angst, sie könnte abgelehnt werden.
Das finde ich schwierig. Wie gesagt, wir müssten nicht nur überweisen, sondern mit einer Erhöhung des Betrags unseren Goodwill beweisen. Der Dialog mit der EU sollte nicht abgebrochen werden, an Machtspielen haben wir kein Interesse.