Alles drängt nach links oder rechts
In der Mitte klafft ein Vakuum

Wie in einer Zentrifuge wird gesellschaftlich alles an die Ränder geschleudert, das Zentrum verwaist zusehends. Soziologen und Ökonomen warnen vor dem 
Vakuum. Eine Bestandsaufnahme.
Publiziert: 27.01.2019 um 09:10 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 10:55 Uhr
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Ein Fussballfeld: Immer weg von der Mitte ins linke oder rechte Tor.
Foto: intertopics
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Professor Otto Lidenbrock sucht das Zentrum. Zusammen mit seinem Neffen Axel macht er sich auf die «Reise zum Mittelpunkt der Erde», wie es programmatisch im Titel von Jules Vernes Fantasy-Roman aus dem Jahr 1864 heisst.

Doch die Forschungstour Richtung Erdkern endet abrupt: Der Vulkan auf Stromboli spuckt die Abenteurer wieder aus. «Eine ungeheure Gewalt, die Kraft von mehreren hundert Atmosphären, welche im Schosse der Erde aufgehäufte Dünste erzeugt hatten, drängte uns unwiderstehlich», erzählt Axel im Buch.

Diese Szene ist symptomatisch für das, was zurzeit auf der Welt abgeht. Alles entfernt sich von der Mitte – politisch nach links und vor allem rechts, soziologisch nach oben und vor allem nach unten.

«Bloss nicht Mitte», überschrieb letzte Woche «Die Zeit» einen Ar­tikel zum auseinanderdriftenden Parteiengefüge in der Schweiz. Und der «Tages-Anzeiger» zitierte letzten Montag den britischen Starökonomen Adair Turner (63): «Eine Mittelschicht wird es nicht mehr geben.»

Ein Befund, den gleichentags eine Studie der Nothilfeorganisation Oxfam stützte, nach der die Reichsten 2018 jeden Tag 2,5 Milliarden Dollar gewonnen hatten, während die Ärmsten noch mehr verarmt waren. Und die Mittelschicht als Kitt dazwischen steht vor einer Zerreissprobe.

«Die Mitte verschwindet»

Schon vor ein paar Jahren prophezeite die US-Soziologin Saskia Sassen (72): «Die Mitte verschwindet. Und das ist schlimm, denn nach so vielen Städten, die ich studiert habe, weiss ich: Es wird zwar immer Arme und Reiche in der Stadt geben, aber eine breite Mittelklasse ist wichtig.»

Ohne sie fehle es an den vielen kleinen Dingen, die eine Stadt fröhlicher mache, so Sassen weiter: kleine Theater, Ateliers, Bio-Läden. «Ist diese Atmosphäre erst einmal weg, ist es schwer, sie wiederzubeleben», sagt sie und führt als Negativ-Beispiel die aus den Boden gestampften Millionenstädte Chinas ins Feld: dicht verbaut, viele Menschen, kein Leben.

Solche Raumplanungen sind letztlich politische Entscheide. Kein Zufall, zeichnet sich auch in der Politik ein Verlust der Mitte ab. In vielen Ländern wie Ungarn, den USA und jüngst Brasilien übernahmen rechtspopulistische Regierungen das Zepter, in Venezuela eine linkspopulistische. Und immer geht diese Politik zu Lasten des Mittelstands.

Auch in Deutschland droht mit dem Erstarken der AfD bei den nächsten nationalen Wahlen ein Rechtsruck. «Wer reanimiert die Mitte?», fragte deshalb «Zeit»-Chefredaktor Giovanni di Lorenzo (59) verzweifelt unter der Überzeile «Zukunft der Demokratie».

In der Vorzeigedemokratie Schweiz kommt es bereits dieses Jahr zu Wahlen der eidgenössischen Räte. Danach dürften sich die Polparteien SVP und SP als stärkste Blöcke gegenüberstehen; den Mitteparteien CVP, BDP und GLP drohen gemäss Prognosen Verluste.

Es zeichnet sich immer klarer ein Bild ab: Die Gesellschaft befindet sich weltweit in einer sich immer schneller drehenden Zentrifuge, in der es alles und alle an den Rand schleudert – nach oben, nach unten, nach links, nach rechts. Und in der Mitte leert sich der Platz.

Lieber Mittelerde der Hobbits als «Die Mitte» der CDU

Dabei hatte die Mitte einst ein gutes Ansehen. Das zeigt sich noch in den Redensarten «Die goldene Mitte» oder «Den goldenen Mittelweg einschlagen». Diese Wendung geht auf die Antike zurück: Beim römischen Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) findet sich die Formulierung «aurea mediocritas» (goldener Mittelweg).

Ovid (43 v. Chr bis 17 n. Chr.), ein Zeitgenosse und Berufskollege von Horaz, dichtete in den «Metamorphosen» (Bücher der Verwandlung): «Medio tutissimus ibis» (in der Mitte gehst du am sichersten). In der mittelalterlichen Tugend der «maze» (Masshaltung, Mässigung) konnte sich dieses antike Gedankengut erhalten und fand damals in Sprichwörtern wie «Die Wahrheit liegt in der Mitte» seinen Ausdruck.

Und heute? Heute singt die deutsche Popband Silbermond: «Und von links und rechts will ein rauer Wind dich lenken; geh mit der Zeit, aber fall nicht in alte Fehler, denn die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte.» Sie leben also noch unter uns, die Menschen, die an die Mitte glauben.

Erst kürzlich äusserte sich auch die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh (44, «Neujahr») zum Thema. Sie sieht in der politischen Mitte die probate Gegen­position zu rechts. Und sie ist überzeugt: «Wir können Mitte auch ohne Mutti» – die rechtsbürgerliche CDU bewegte sich unter der deutschen Bundeskanzlerin Angela «Mutti» Merkel (64) nach links und legte sich den Slogan «Die Mitte» zu.

Trotz dieser Stimmen: Die Mitte ist in westlich geprägten Gesellschaften nicht angesagt. Hier fasziniert sie bloss noch, wenn sie als Fantasy-Film Jules Vernes «Reise zum Mittelpunkt der Erde» (2008) oder Mittelerde aus der Film-Trilogie «The Hobbit» (2012 bis 2014) auf die Leinwand zaubert. Aber im realen Leben ist die Mitte aussen vor.

Anders in Asien, wo die Inder von alters her mittels Yoga ihre innere Mitte suchen und die Chinesen ihr riesiges Land Zhong Guo nennen, Reich der Mitte – den Begriff China erfanden die Europäer, eine lautmalerische Ableitung vom Namen der Herrscherdynastie Qin (221–207 v. Chr.).

Die Bezeichnung «Reich der Mitte» ist geprägt von der Vorstellung, die Chinesen würden als vollendete Zivilisation den Mittelpunkt der Erde bewohnen, auf der einen Seite umgeben vom Meer, auf der anderen von Barbaren. Fernöstliche Weltkarten zeigen bisweilen noch heute China als das grosse, zentrale Land der Erde.

Die Mitte der Schweiz ist ein Touristenmagnet

Und wo liegt der Bauchnabel der Welt wirklich? 
Der geografische Mittelpunkt der Erdoberfläche ist in 
der Nähe der türkischen Stadt Çorum in der anatolischen Schwarzmeerregion. Mit Satelliten lässt sich das mittlerweile exakt berechnen. Und solche Ausmessungen haben sich regelrecht zu einer sportlichen Disziplin entwickelt: Kein Land, das nicht seine Mitte bestimmte und den Ort zu einem Besuchermagnet machte.

Die Europäische Union steht da nicht zurück, allerdings muss sie flexibel sein: Der geografische Mittelpunkt der EU ist mit der Osterweiterung von Belgien Richtung Deutschland gewandert und liegt aktuell auf dem Gebiet der bayerischen Gemeinde Westerngrund. Nach dem Brexit wird sich der Mittelpunkt weitere 70 Kilometer südöstlich in die Gemeinde Veitshöchheim bei Würzburg verschieben.

Eine solche nationale Nabelschau ist stets eine Attraktion und zieht Menschen an. So auch der Mittelpunkt der Schweiz auf der Älggi-Alp OW. Obwohl schwer zugänglich, scharen sich im Sommer viele Wanderer um den Stein, auf dem eine Tafel mit den Namen der «Schweizer des Jahres» prangt, von Beat Richner (2002) über Eveline Widmer-Schlumpf (2008) bis zu Didier Burkhalter (2014).

Paradox: Während die Gedenktafel für die Ehrung von Widmer-Schlumpf zur «Schweizerin des Jahres» nach ihrer spektakulären Wahl zur Bundesrätin eine Attraktion ist, dürfte ihre Mitte-Partei BDP bei den nationalen Wahlen vom 20. Oktober weniger anziehend sein.

Und so beäugen sich Links und Rechts weiterhin kritisch aus der Ferne, Ober- und Unterschicht verachten sich gegenseitig – und keine Mitte, die vermittelt. Aber vielleicht erinnert das rege Treiben auf der Älggi-Alp daran: In der Mitte trifft man sich. Mittendrin, mitten unter Menschen zu sein, bedeutet Nähe. Und die suchen alle, nicht nur auf der Älggi-Alp – schliesslich zieht es jeden nach Berlin Mitte, London City oder Milano Centro und kaum je in die Aussenquartiere oder Randgebiete.

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