Herr Bundesrat, jetzt stecken wir seit anderthalb Jahren in dieser Pandemie. Und trotzdem gelingt es dem Bundesrat und den Behörden nicht, einen grossen Teil der Bevölkerung zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Warum nicht?
Alain Berset: Diese Sicht teile ich nicht ganz. Wir haben heute einen klar höheren Anteil an Geimpften erreicht, als wir ursprünglich angenommen hatten. Die Impfbereitschaft ist stets gestiegen.
Und doch weist die Schweiz die tiefste Impfquote Westeuropas auf.
Die Quote liegt tiefer als in den umliegenden Ländern und sie ist auch deutlich zu wenig hoch angesichts der Delta-Variante, das stimmt und ist nicht gut. Wir haben einen Weg gewählt, der ganz sicher ohne Impfpflicht auskommt und auf Informationen basiert. Eine neue Kampagne startet nächste Woche. Es gibt noch einen grossen Teil der Bevölkerung, der bis jetzt gewartet hat und sich nun hoffentlich impfen lässt.
Sie glauben, das reicht bis zum Beginn des Herbstes?
Man kann die Situation im vergangenen Herbst nicht fürchterlich gefunden haben und nun den einzigen Weg aus der Pandemie, die Impfung, einfach ignorieren! Seit 18 Monaten arbeiten wir einzig und allein daran, Schluss zu machen mit dieser Krise. Das geht nur mit der Impfung. Ich will offene Kinos, offene Restaurants, offene Theater, ich will frei sein in meinem Leben! Auch darum geht es bei der Impfung und nicht allein um den Schutz vor der Krankheit.
Die Ungeimpften gefährden die Freiheit der Geimpften, das ist Ihre Botschaft?
Der Bundesrat hat immer stark auf Eigenverantwortung und Mitmachen der Bevölkerung gesetzt und darauf, eine Wahlmöglichkeit zu geben. Die haben wir mit den besten zurzeit verfügbaren Impfstoffen. Es braucht nochmals einen richtigen Schub von uns allen, damit sich noch mehr Menschen zur Impfung entschliessen.
Wie sieht dieser Schub denn aus? Sie haben sich diese Woche ja mit den Kantonen über die Impfkampagne ausgetauscht.
Die Kantone arbeiten viel. Im Austausch geht es darum, herauszufinden, was klappt und was nicht. Die Kantone sind am besten in der Lage, die Menschen direkt zu erreichen und den Zugang zur Impfung so einfach wie möglich zu gestalten. Das braucht es nun. Die mobilen Impfungen in den Dörfern etwa funktionieren gut. Dann gibt es Kantone, die Impfungen in den Schulpausen anbieten, auch eine gute Sache.
Wird das ausreichen?
Es braucht ein grösseres Engagement der Wirtschaft. Da ist noch viel Luft nach oben. Die Unternehmen, Sportklubs, Fitnesscenter, Kulturorganisationen: Alle, die so stark gelitten haben, sollten ein Interesse haben, dass sich möglichst viele Personen impfen lassen. Es gibt gewisse Branchen, die jetzt gegen ein Zertifikat kämpfen. Investiert diese Energie, um uns beim Impfen voranzubringen, dann braucht es die Ausweitung hoffentlich nicht.
Was erwarten Sie denn von der Wirtschaft?
Sie kann Überzeugungsarbeit und Aufklärungsarbeit leisten, um das Angebot der Impfung noch bekannter zu machen. Unternehmen können auch Angebote schaffen, etwa dass sich Mitarbeitende in den Betrieben impfen lassen können. Und sie können mit dem Angebot zum repetitiven Testen in ihrem Unternehmen weiter dazu beitragen, die Pandemie besser kontrollieren zu können.
Sie haben die Kantone angesprochen, die Wirtschaft. Wo bleibt der Bund?
Zuerst möchte ich noch sagen: Die epidemiologische Lage ist nicht gut genug bei uns. Wir können nicht sagen, es wird gut gehen im Herbst. Zur Frage: Der Bund beschafft und verteilt den Impfstoff, hilft beim Koordinieren, die Kantone führen die Impfungen durch. Aber es gelingt nur, wenn alle mithelfen. Die Behörden können das nicht allein. Jetzt müssen wir uns alle anstrengen, sonst ist es zu spät. Das ist mein Appell.
Aber warum wollen Sie keine Ausweitung der Zertifikatspflicht? Die private Hotelfachschule in Lausanne verlangt künftig von ihren Studierenden diesen Nachweis.
Der Bundesrat hat drei Bereiche festgelegt: Der Zugang ohne Zertifikat soll gewährleistet bleiben, bei Behörden zum Beispiel oder beim öffentlichen Verkehr und bei öffentlichen Schulen. Dann gibt es einen Bereich, Restaurants etwa, wo zurzeit Betreiber selber entscheiden können, ob sie ein Zertifikat verlangen. Discos oder Grossveranstaltungen können heute nur dank des Zertifikats überhaupt offen sein.
Eine Ausweitung der Zertifikatspflicht würde das Impftempo steigern.
Für den Bundesrat hat die Impfung Priorität. Eine Ausweitung der Zertifikatspflicht ist denk-bar, sollte eine Überlastung des Gesundheitswesens drohen.
Dann ist es doch wieder zu spät.
Ich habe gesagt, wenn eine Überlastung droht, nicht wenn diese Überlastung schon Realität ist. Aber eine theoretische Diskussion über das Zertifikat Mitte August macht keinen Sinn. Zurzeit ist eine Ausweitung nicht nötig. Der Bundesrat hat immer versucht, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben möglichst wenig einzuschränken.
Aber das Potenzial für eine Eskalation bleibt halt doch bestehen: Millionen Menschen werden ungeimpft bleiben, darunter Hunderttausende besonders Gefährdete. Also können auch Sie keine Wiederholung des vergangenen Herbstes ausschliessen.
Wir haben eine andere Ausgangslage dank der Impfstoffe in genügender Menge für alle, die das wollen. Aber es ist heute nicht möglich zu sagen: Alles wird gut. Ich weiss es schlicht nicht. Klar ist, es gibt noch zu viele, die noch nicht immun gegen das Virus sind. Es gibt mehr ungeimpfte Menschen in der Schweiz als solche, die sich bis heute infiziert haben. Wenn wir es nicht bereits sind, werden wir alle in nächster Zeit mit dem Coronavirus in Kontakt kommen – entweder via Impfung oder Ansteckung mit allen Konsequenzen. Die Ansteckungen werden in den nächsten Wochen zunehmen. Der Bundesrat hat mit seinen Massnahmen den Schutz der Spitalkapazitäten im Fokus.
Sie haben aber auch gesagt, dass, wenn alle sich impfen lassen konnten, sämtliche Massnahmen wegfallen würden.
Der Bundesrat hat immer gesagt, dass es über eine gewisse Zeit einen Sockel an Basismassnahmen wie Maskentragen brauchen wird. Wir führen diese Diskussion nur, weil wir im Juni viel stärker lockern konnten, als von allen erwartet wurde.
Wollten Sie das denn auch?
Ja. Aber es war ein grosser Schritt. Die verbleibenden Massnahmen sind nicht mehr so einschneidend. Ich bin mit Maske im Zug ins Tessin gefahren und fand das auch etwas unangenehm. Doch das ist kein Vergleich zu der Schliessung aller Restaurants und Kinos.
Schwingt in der Debatte um das Zertifikat schon die Sorge mit vor der Abstimmung über das Covid-Gesetz im November?
Nein. Ich freue mich auf diese Diskussion. Die darf gerne hart sein, aber bitte sachlich sowie mit Respekt und Anstand, wie wir uns das gewohnt sind. Was ist der Job einer Regierung in der Pandemie? Die Freiheit zurückzubringen – und zwar so rasch wie möglich. Darum haben wir keinen Impfzwang, sondern die Möglichkeit, mit einem Zertifikat nachzuweisen, ob man genesen, geimpft oder getestet ist. Wer heute gewisse Veranstaltungen besuchen oder reisen will, bestellt ein Zertifikat. Schon über sieben Millionen wurden ausgestellt. Lehnen wir das Covid-Gesetz ab, können wir das nicht mehr.
Zum anstehenden Schulstart erklärte etwa der Kanton Bern, drei Wochen zu testen, dann die Tests einzustellen. Haben Sie versucht, die Kantone auf eine Linie zu bringen?
Der Bundesrat empfahl Anfang Sommer, in den Schulen breit zu testen. Ich will möglichst wenig Quarantäne, damit die Kinder in die Schule gehen können. Die Reaktion war teilweise harsch, die Schule ist nun mal die Domäne der Kantone.
Der Lehrerverband fordert CO₂-Messgeräte in Schulzimmern.
Gute Luft ist zentral. Wir machen auch im Bundesrat regelmässig eine kleine Pause, um den Raum zu lüften. Messgeräte können als Erinnerungshilfe fürs Lüften eingesetzt werden, aber wichtiger ist, dass effektiv und regelmässig gelüftet wird.