Soll die Schweiz grössere Flüchtlingsgruppen aus Afghanistan aufnehmen? Nein, findet der Bundesrat. Sie habe zwar Verständnis für die Forderungen, erklärte FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter (57) am Mittwoch. «Das ist zurzeit aber nicht möglich.» Zum einen sei die Lage in Afghanistan sehr instabil, zum anderen habe die Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR noch «nicht einmal das Bedürfnis» erheben können.
Dass am Hindukusch ein Hilfsbedürfnis besteht, lässt sich angesichts der Bilder von Menschen, die sich an startende Flugzeuge klammern, kaum leugnen. Die Lage in Afghanistan sei aber tatsächlich sehr volatil und unübersichtlich, sagt die Leiterin des Schweizer UNHCR-Büros, Anja Klug.
Das Hauptanliegen des Hilfswerks bestehe aktuell darin, dass Afghaninnen und Afghanen, die in den Nachbarländern Sicherheit suchen, dort Zugang finden. «Das UNHCR fordert die Nachbarländer Afghanistans auf, ihre Grenzen angesichts der sich verschärfenden Krise offen zu halten», sagt sie.
Erleichterte Familienzusammenführungen
Doch auch von Ländern wie der Schweiz erhofft sich das Uno-Flüchtlingshilfswerk Unterstützung. Die Schweiz habe bereits während der Flüchtlingskrise in Syrien von erleichterten Visa-Bestimmungen zur Familienzusammenführung Gebrauch gemacht, sagt Anja Klug. «Diese Option könnte auch für afghanische Flüchtlinge in Nachbarländern mit engen Verwandten in der Schweiz geprüft werden.»
Im September 2013 wies die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga (61, SP) die Schweizer Vertretungen in der Türkei, im Libanon oder in Ägypten an, nicht nur Ehepartnern und Kindern, sondern auch Eltern oder Grosskindern von hier lebenden Syrern Visa für die Einreise in die Schweiz auszustellen. Der Andrang war gross: Innert weniger Monate reisten 4000 Syrerinnen und Syrer in die Schweiz.
Linke macht Druck
Für die SP und Grünen reicht das Engagement des Bundesrates bei weitem nicht aus. Am Freitag haben sie gemeinsam mit dem Verein Asylex, der Rechtsberatungen für Flüchtlinge anbietet, einen Appell mit über 41'000 Unterschriften eingereicht.
Schon früher hatten die Parteien die Forderung eingebracht, mindestens 10'000 Menschen aufzunehmen, sowie den Familiennachzug für hier lebende Afghaninnen und Afghanen zu ermöglichen. «Wir erwarten nicht, dass der Bundesrat den Afghanistan-Konflikt löst, aber er muss mehr tun als bisher», sagte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer (33).
Kanada und Grossbritannien helfen
Derweil bieten andere Länder proaktiv ihre Hilfe an. So hat etwa Kanada angekündigt, 20'000 Frauen, Journalisten, Homosexuelle und Menschenrechtsaktivisten aus Afghanistan aufzunehmen. Der kanadische Migrationsminister, Marco Mendicino, sagte dazu: «Die Situation in Afghanistan ist herzzerreissend, und Kanada wird nicht tatenlos zusehen.»
Auch Grossbritannien hat für die nächsten Jahre die Aufnahme von 20'000 Flüchtlingen in Aussicht gestellt. Die britische Innenministerin Priti Patel (49) erklärte, man wolle vor allem Frauen, Mädchen und verfolgten Minderheiten Schutz bieten. Die konservative Politikerin geht davon aus, dass im ersten Jahr ungefähr 5000 Menschen die Ausreise von Afghanistan nach Grossbritannien schaffen werden.
USA schickt Flüchtende zuerst in den Balkan
Auch in Tirana räumen die Studenten derzeit ihre Zimmer, um afghanischen Flüchtlingen Platz zu machen. Albanien wird laut Ministerpräsident Edi Rama (57) rund 1000 Flüchtlinge aufnehmen. Das Land könne es sich nicht leisten, ein kurzes Gedächtnis zu haben, schrieb Rama auf Twitter.
Albanien nimmt afghanischen Flüchtlinge – wie Kosovo und Nordmazedonien – allerdings nur vorläufig und auf Bitten der USA auf. Sobald die Menschen einer eingehenden Sicherheitsprüfung unterzogen und die Visa ausgestellt sind, sollen sie nach Amerika weiterreisen. Einen ähnlichen Deal zur vorübergehenden Aufnahme von 2000 Flüchtlingen hat Washington mit Uganda abgeschlossen. (til)