Die Corona-Krise macht die Terminsuche nicht einfacher. FMH-Präsident Jürg Schlup (64) hat zwar mehrere Zeitfenster offen, doch entscheidend ist ein genügend grosses Sitzungszimmer, um beim Interviewtermin die Abstandsregeln einhalten zu können. Beim Treffen in den Räumlichkeiten des Ärzteverbands wirkt Schlup entspannt. Eigentlich hätte er im Mai den Chefposten abgeben wollen, doch wegen der Corona-Krise wurde die Wahl seiner Nachfolge vertagt.
BLICK: Herr Schlup, eine Quizfrage: Was haben Sie mit SVP-Chef Albert Rösti und SP-Präsident Christian Levrat gemeinsam?
Jürg Schlup: Hm, vielleicht dass wir alle Brillenträger sind? Mit Levrat habe ich ausserdem gemeinsam, dass ich vor zehn Jahren leicht übergewichtig war.
Und alle drei müssen länger im Präsidium bleiben als geplant.
Das stimmt natürlich! Wir werden meine Nachfolge voraussichtlich erst im Oktober klären können. Ich kann und will die FMH nicht im Stich lassen, darum stehe ich weiterhin zur Verfügung. So eine Pandemie findet schliesslich vielleicht alle zwei oder drei Generationen statt, das ist eine aussergewöhnliche Situation.
Wenn Sie zurücktreten sind Sie 65 – und damit Teil der Risikogruppe. Wie fühlt sich das an?
Ältere Menschen sind bei Corona-Ansteckungen gefährdeter – auch wenn die Altersgrenze etwas willkürlich gewählt ist. Ich werde aber in bester Gesellschaft sein: Bei den berufstätigen Ärzten sind 15 Prozent über 65 – weil sie keine Nachfolger finden und Praxen nicht übergeben können. Der Ärztemangel ist mindestens so ausgeprägt wie der Pflegemangel, wenn nicht ausgeprägter.
Feiern Sie Ihren Geburtstag im September mit einem grossen Fest, oder stecken wir mitten in der zweiten Welle?
Ich habe keine Kristallkugel, was die zweite Welle betrifft. Wenn ich andere Länder anschaue, habe ich aber nicht das Gefühl, dass die Krise bald vorbei ist. Sehen Sie sich Südkorea an, wo ein einzelner Corona-infizierter Partygänger eine zweite Welle ausgelöst hat. Es braucht wenig.
Ist eine zweite Welle also gar nicht vermeidbar?
Doch. Wenn die Bevölkerung weiterhin vorsichtig ist und sich an die Abstands- und Hygieneregeln hält, ist eine zweite Welle vermeidbar. Bis jetzt sind wir dank der Disziplin der Bevölkerung auch glimpflich davongekommen.
Die schlimmsten Prognosen sind nicht eingetreten, die Spitäler waren nicht überlastet. Hat man überreagiert?
Nein, der Bundesrat hat angemessen reagiert. Vor allem, wenn man international vergleicht: Es geht uns besser als Italien, den USA oder Spanien. Weltweit sterben wöchentlich 35’000 Menschen an Corona-Infekten, das entspricht etwa der Bevölkerung der Stadt Chur. Bis eine Impfung kommt – und ich rechne nicht vor Herbst 2021 damit – müssen Hygiene- und Abstandsregeln weiterhin gelten.
Also keine Hoffnung auf eine Impfung dieses Jahr?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber ich halte das für nicht realistisch.
Viele Menschen sind offenbar aus Angst vor Infektionen nicht zum Arzt gegangen. Mit welchen Folgen?
Nicht die Angst war ausschlaggebend, sondern das bundesrätliche Verbot der nicht dringlichen Eingriffe und Behandlungen. Dadurch wurden 70 Prozent der Untersuchungen vonseiten der Ärzte nicht durchgeführt oder verschoben. Solche Verschiebungen können zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder Komplikationen führen.
Wo etwa?
Zum Beispiel bei herzkranken Menschen oder solchen mit Diabetes. Meine Kollegen berichten auch von Leiden, die subtil beginnen, und ernste Konsequenzen haben, wenn man sie verpasst – zum Beispiel Hirnschläge oder geplatzte Blinddärme.
Man wird also gesundheitlich Folgen sehen, die durch den Lockdown ausgelöst wurden. War die Kur schlimmer als die Krankheit?
Es wird auf jeden Fall negative Folgen haben. Ob der medizinische Preis gerechtfertigt ist, lässt sich aber heute noch nicht beantworten. Dazu kommen natürlich die wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die auch einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Aber man darf nicht vergessen, dass es diese Infektionskrankheit erst seit fünf Monaten gibt, es ist zu früh, um langfristige Folgen zu beurteilen.
Seit gut vier Wochen sind die Arztpraxen wieder normal geöffnet. Kehren die Patienten wieder zurück?
In der Lockdown-Phase ist die Anzahl der Behandlungen auf circa ein Drittel des Normalzustands gesunken. Seit der Lockerung sind wir im stationären Bereich praktisch wieder auf demselben Niveau wie zuvor. Im ambulanten Bereich hingegen erst auf etwa zwei Dritteln. Viel höher wird man in vielen Praxen nicht kommen. Wegen der Schutzmassnahmen muss man die Anzahl der anwesenden Personen begrenzen. Man braucht mehr Platz, aber auch mehr Zeit – etwa zum Desinfizieren. Das verlangsamt alles.
Oder bestätigt es einfach, dass die Leute vorher wegen jeder Bagatelle zum Arzt gerannt sind?
Das kann man nicht sagen. Die tiefere Zahl der Behandlungen ergibt sich zu einem grossen Teil daraus, dass man eben in derselben Zeit weniger Leute behandeln kann. Eine Hausärztin kann nicht mehr drei Patienten gleichzeitig in die Praxis bestellen, um mit ihren Mitarbeiterinnen zusammen die jeweiligen Abklärungen zu machen.
Alles braucht mehr Zeit. Droht damit gar eine Unterversorgung der Patienten?
Eine Unterversorgung wird es nicht geben. Aber Mehrarbeit für die Ärzte. Einige Praxen haben nun länger offen, teilweise auch samstags, um den Rückstand aufzuholen. Insgesamt wird es bis Ende Jahr aber weniger Behandlungen geben. Der Lockdown-Rückstand lässt sich nicht vollständig aufholen.
Kommt jetzt der Prämienstopp dank Corona?
Ich schätze, es wird wir letztes Jahr nur ein kleinen Anstieg geben. Während zweier Monate konnten zwei Drittel der Leistungen nicht durchgeführt werden. Die Prämien wurden bezahlt, aber die Leistungen konnten nicht bezogen werden. Wenn es einen Anstieg bei den Prämien gibt, wird dieser sehr moderat sein.
Es gab viel Kritik an den Corona-Meldungen, die Ärzte per Fax übermittelt haben. Wie kann das sein?
Die administrative Belastung für die Ärzteschaft ist riesig. In den letzten sieben Jahren ist sie pro Arzt im Durchschnitt um 30 Minuten – pro Tag! – gestiegen. Das BAG, das Bundesamt für Gesundheit, bietet kein vollständig online ausfüllbares Formular an. Man muss auf der Website eines anfordern und erhält dieses nach einer Viertelstunde gemailt. Bis dahin ist man beim nächsten Patienten.
Sind es also nicht die Ärzte, sondern das BAG, das bei der Digitalisierung hinterherhinkt?
Fragen Sie das Bundesamt für Statistik! Dieses bietet Onlineformulare, die man direkt ausfüllen kann – und die werden auch problemlos von allen Ärzten ausgefüllt. Das BAG bietet das so aber nicht an. Es braucht jedes Mal den Zusatzschritt, das Formular anzufordern, und die Wartezeit. In dieser Situation geht ein Fax nun mal schneller.
Wäre das elektronische Patientendossier die Lösung?
Das ist sicher die Zukunft und unser Ziel. Zurzeit gibt es aber noch viele Kinderkrankheiten, es sind unter anderem noch technische Fragen offen. Die Pandemie wird aber einen Schub auslösen und die Digitalisierung enorm befördern. Das ist eine gute Sache! Vieles, was vor drei Monate als schwierig angeschaut wurde, wird jetzt gelebt. Zum Beispiel haben wir unseren Mitgliedern vor zwei Monaten ein Software-Tool zur Verfügung gestellt, damit sie Videokonsultationen sicher anbieten können. Das wird sehr rege genutzt.
Ersetzen künftig vermehrt Videokonsultationen eine persönliche Behandlung?
Künftig wird es sicher häufiger Videokonsultationen geben. Geeignet sind diese bei bekannten Patienten für Verlaufskontrollen, gerade bei chronisch Kranken. Auch Diagnose und Behandlung von Hautkrankheiten sind mit einer guten Kamera gut möglich. Eine Lunge abhören oder einen Bauch abtasten kann man aber natürlich nicht.
Welche Lehren ziehen Sie sonst noch aus der Krise?
Die Versorgung ist ein grosses Thema – mit Medikamenten, mit Schutzmaterial, aber auch Impfungen. Eine Impfung gegen bakterielle Lungenentzündungen war beispielsweise schon im Februar nicht mehr zu haben, weil Risikopatienten vorsorglich geimpft wurden. Es braucht einerseits grössere Pflichtlager, andererseits müssen Medikamente, Impfstoffe und Schutzmaterial wieder vermehrt in der Schweiz und in Europa hergestellt werden.
Wie ist die Gefühlslage, mit einer Krise die Zeit im FMH-Präsidium zu beenden.
Es gilt, weiterhin Vollgas zu geben, gerade in dieser Krise. Auch wenn ich mich freue, später kürzerzutreten. Die FMH ist ein grosser Verband, den man nur im Team führen kann. Da braucht es gegenseitige Unterstützung, Zusammenarbeit und gemeinsame Ziele.
Jürg Schlup (64) ist seit 2012 Präsident des Verbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Seine Wahl war eine Überraschung, sogar für ihn selber. Er gilt als ruhige, zurückhaltende Persönlichkeit. Anders als sein Vorgänger, Jacques de Haller, äussert sich Schlup öffentlich nur zu Gesundheitsthemen. Über 30 Jahre war er als Arzt tätig, zuletzt als Hausarzt in Zollikofen BE. Er ist in der FDP, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Jürg Schlup (64) ist seit 2012 Präsident des Verbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Seine Wahl war eine Überraschung, sogar für ihn selber. Er gilt als ruhige, zurückhaltende Persönlichkeit. Anders als sein Vorgänger, Jacques de Haller, äussert sich Schlup öffentlich nur zu Gesundheitsthemen. Über 30 Jahre war er als Arzt tätig, zuletzt als Hausarzt in Zollikofen BE. Er ist in der FDP, verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.