Weil ich selbst gern nochmals 80 wäre, beglückwünsche ich Sie herzlich dazu. Dass ich die Schweiz nicht immer zu Ihrer Politik beglückwünscht habe, stehe auf einem andern Blatt – die Geschichte ist gerade dabei, ein neues aufzuschlagen.
Und so gestehe ich auch gerne zu, dass Auschwitz nicht in der Schweiz liegt, solange Ihnen die Vorstellung nicht mehr ganz fremd bleibt, es liege überall, wo Menschen fähig sind, jede Dienstpflicht mit «Anstand» zu verwechseln.
Missverständnisse zwischen uns auszuräumen, hat sich auch eine gemeinsame Freundin bemüht, indem sie uns am Heiligabend zu ihrer vorzüglichen Leberpastete einlud. Das roch dann ein wenig nach Kappeler Milchsuppe.
Seither frisst jeder einigermassen friedfertig «uf synem Erdrych». Es würde mir nie einfallen, Sie mit Trump zu verwechseln, nur weil «America first» nach SVP tönt. Vor dem «great again» bewahrt Sie Ihr historischer Sinn. Zu meiner japanischen Frau sind Sie immer ausgesucht galant.
Kurzum: Zwischen uns hat sich etwas beinahe Heimeliges eingeschlichen, auch wenn unsere Differenz intakt bleibt, vor allem diese: Hätte die Schweiz ihre Grenze nach Europa immer so dicht gemacht, wie Ihre Partei verlangt, wären uns Schwaben wie Nestle oder Blocher (von Bührle zu schweigen) nicht ins Haus gekommen.
Dass Schillers Tell ein Zuwanderungsgewinn war, darüber sind wir wohl einig, einig, einig – ob wir einen Tyrannenmörder feiern, einen selbständigen Unternehmer oder einen frommen Familienvater. Kunst kommt von Können! Und mit Kunst haben Sie ja etwas am Hut. Albert Anker ist nicht mein Maler, aber ein grosser, und die Rheinau macht sich als Musikwerkstatt deutlich besser denn als Irrenanstalt.
So komme ich ohne Altersmilde aus, wenn ich uns beiden wünsche, dass wir die Lebenskunst (die Schiller über alle andern gestellt hat) nicht auslernen – noch eine gute Weile. Dass sie uns mit Ihnen zu lang wird, muss niemand fürchten, am wenigsten Ihr
Adolf Muschg