BLICK: Herr Berset, haben Sie FDP-Präsidentin Petra Gössi als Dankeschön einen Blumenstrauss geschickt?
Alain Berset: Nein, wieso? (lacht)
Gössi hat den Reformbefürwortern mit ihrer Kritik an den Ausland-Rentnern eine Steilvorlage geliefert.
Ihre Aussage hat vor allem gezeigt, dass die Reform unterschiedlichste Facetten hat und die Diskussion nicht einfach ist.
Ein Drittel der AHV-Renten fliesst ins Ausland. Stört Sie das nicht?
Nein. Wer bei uns arbeitet und die AHV mitfinanziert, hat Anrecht auf eine gerechte Rente. Viele Ausland-Renten gehen an Schweizer, die ein Leben lang hier gearbeitet haben. Und ausländische AHV-Bezüger erhalten in der Regel nur eine sehr tiefe Rente – im Schnitt weniger als 500 Franken pro Monat. Wenn diese Personen in der Schweiz bleiben würden, hätten sie Anrecht auf Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen. Die Kosten wären massiv höher.
Frau Gössi hat bei Ihnen abgekupfert: Als die AHV-Minimalrente um 450 Franken erhöht werden sollte, lautete Ihr Gegenargument, dass 70 Prozent davon ins Ausland fliessen würden.
Ich habe bloss transparent gemacht, was dieser Entscheid bedeutet hätte. Das Leben vieler Rentner in der Schweiz wäre kaum verbessert worden, weil sie im Gegenzug weniger Ergänzungsleistungen erhalten hätten.
Auch Sie haben die Anti-Ausländer-Karte gespielt.
Also bitte, sicher nicht! Ich habe einen Fakt aufgezeigt. Ohne Wertung.
Die Reform wollte die Sozialwerke stabilisieren. Mit der Erhöhung der AHV-Rente um 70 Franken ist daraus ein Ausbau mit Milliarden-Kosten geworden!
Die Vorlage sichert die Stabilität des Gesamtsystems von AHV und Pensionskassen. Die 70 Franken bedeuten unter dem Strich keinen Ausbau, sondern sind ein Teil der notwendigen Kompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge.
Wieso notwendig? Die Politik wollte stabilisieren, nicht neue Ausgaben schaffen.
Entscheidend ist, dass das Rentenniveau insgesamt gehalten werden kann. Alles andere wäre niemals mehrheitsfähig. Die Vorlage ist sehr ausgewogen.
Die 70 Franken verschlimmern die Situation bei den Ausgaben. Statt gezielt tiefere Renten zu erhöhen, greifen Sie zur Giesskanne.
Die 70 Franken verschlimmern die Situation nicht, sie sind auf lange Sicht finanziert. Sie werden auch nicht mit der Giesskanne verteilt, sondern kompensieren Einbussen, die mit einem tieferen Umwandlungssatz verbunden wären. Man hätte das anders machen können, dann würde aber vielen Neurentnern ein Teil der Kompensation fehlen und das Rentenniveau wäre nicht mehr garantiert. Zudem profitieren von den 70 Franken die tiefen Renten stärker als die höchsten.
Wir werden immer älter. Hatte Ihr Vorgänger, Pascal Couchepin, eben nicht doch recht, als er Rentenalter 67 forderte?
Wir machen nicht nichts! Wir schaffen mit der Vorlage finanzielle Anreize für eine Weiterarbeit nach 65. Mit den Beiträgen können neu die AHV-Renten verbessert werden. Das Frauenrentenalter wird auf 65 Jahre erhöht – und schon das wird kein Spaziergang. Glauben Sie im Ernst, dass sich im Volk eine Mehrheit für Rentenalter 67 finden liesse?
Glauben denn Sie, dass wir immer älter werden können, ohne länger zu arbeiten?
Es gibt keine Wunder! Es gibt nur drei Möglichkeiten: Mehr bezahlen, länger arbeiten oder eine tiefere Rente akzeptieren. Tiefere Renten hat das Stimmvolk schon mehrmals abgelehnt. Über ein höheres Rentenalter kann man diskutieren, kann dabei aber die Realität nicht ausblenden: In gewissen Branchen können die Menschen schlicht nicht über 65 hinaus arbeiten und Ältere haben es bereits heute schwer, eine Stelle zu finden. Der Arbeitsmarkt erlaubt zurzeit kein Rentenalter 67.
Die Frauen erbringen mit Rentenalter 65 ein grosses Opfer. Das dabei eingesparte Geld wird durch den 70-Franken-Deal wieder aufgefressen.
Das bei den Frauen eingesparte Geld finanziert nicht die 70 Franken mehr AHV. Das muss man klipp und klar sagen.
Indirekt schon: Das Frauenrentenalter entlastet die AHV-Rechnung um 1,3 Milliarden, die 70 Franken belasten sie mit 1,4 Milliarden.
Die 70 Franken werden durch einen höheren Lohnbeitrag von 0,3 Prozent finanziert und sind damit bis 2039 gesichert. Für Arbeitnehmende macht das auf 1000 Franken Lohn nur 1.50 Franken zusätzlich aus. Dabei muss man sehen: Eine Erhöhung der Lohnbeiträge gab es letztmals vor mehr als 40 Jahren.
Die Frauen müssen eine Kröte schlucken. Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu?
Die Frauen leisten einen grossen Beitrag, gewinnen aber auch mit der Reform. Für Teilzeitarbeitende und Tieflohnempfänger – und das sind grossmehrheitlich Frauen – wird die Situation massiv verbessert. Stellen Sie sich vor: Eine halbe Million erwerbstägige Frauen haben heute keine zweite Säule! Für diese sind die zusätzlichen 70 Franken AHV wichtig.
Also kein AHV-Streit im Hause Berset?
Nein! (lacht)
Mehr belastet wird auch die Wirtschaft – durch höhere Lohnbeiträge und eine höhere Mehrwertsteuer. Wie soll ein KMU das tragen können, das ohnehin schon zu kämpfen hat?
Alle beteiligen sich, auch die Wirtschaft. Die Erhöhung der Lohnbeiträge ist aber minim. Und auch die Mehrwertsteuer wird im Vergleich zu heute nur um 0,3 Prozent erhöht – und auch erst ab 2021. Die jetzige Reform ist für die Wirtschaft viel günstiger als ursprünglich geplant. Ein Nein würde die Wirtschaft langfristig viel teurer zu stehen kommen.
Warum? Bei einem Nein ändert sich ja nichts.
Die Babyboomer gehen jetzt in Rente, damit werden die Zahlen in der AHV ohne Reform rasch tiefrot. Am Schluss muss jemand bezahlen. Dann diskutiert man entweder über noch höhere Lohnbeiträge oder über eine noch höhere Mehrwertsteuer, um die Renten zu finanzieren und zusätzlich die Schulden abzubauen. Jede weitere Verzögerung kostet massiv.
Sie sagen selbst: Jemand muss bezahlen. Am stärksten trifft es die Jungen. Das ist ungerecht.
Ungerecht ist die Umverteilung in der zweiten Säule. Dort spart jeder für sich selbst, doch heute fliessen jährlich 1,3 Milliarden Franken von den Jungen zu den Alten, weil sonst deren Renten nicht bezahlt werden könnten. Mit der Reform wird diese Umverteilung immerhin um zwei Drittel vermindert. Die Jungen zahlen etwas mehr, aber für sich selbst! Und sie erhalten eine sichere AHV. Diese funktioniert seit 70 Jahren im Umlageverfahren. Die Jungen finanzieren die Renten.
Verlierer der Reform sind auch die heutigen Rentner. Sie müssen mehr Mehrwertsteuer berappen – ohne Gegenleistung.
Das stimmt nicht. Dass die heutigen Rentner die 70 Franken nicht bekommen, hat einen einfachen Grund: Sie sind nicht von der Senkung des BVG-Umwandlungssatzes betroffen. Sie bezahlen an die 70 Franken auch keinen Rappen. Was die Rentner von der geringen Mehrwertsteuer-Erhöhung haben, ist die Sicherheit, dass auch ihre AHV-Renten gewährleistet sind. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann hat der AHV-Fonds innert zehn Jahren zu wenig Geld, um die laufenden Renten zu bezahlen. Wir befänden uns in einer nie dagewesenen Notsituation. Dann könnten auch die jetzigen Renten unter Druck kommen.
Von der Reform profitiert nur eine Altersgruppe: Die 45- bis 65-Jährigen. Die heutige BVG-Rente wird ihnen garantiert – und obendrauf erhalten sie den 70-Franken-AHV-Zustupf. Warum bevorzugen Sie diese Generation?
Die 70 Franken sind kein Zustupf, sondern sie sind für den Erhalt des Rentenniveaus nötig. Und noch einmal: Bezahlt werden die 70 Franken auch von 45- bis 65-Jährigen mit dem zusätzlichen AHV-Beitrag, nicht über die Mehrwertsteuer. Dieser Übergangsgeneration bleibt zu wenig Zeit, den tieferen Umwandlungssatz zu kompensieren. Deshalb braucht es hier eine Besitzstandsgarantie.
Mit den 70 Franken wird diese Generation überkompensiert. Wollen Sie sich damit ein Ja erkaufen?
Nein. Das Ziel war, dass das Rentenniveau nicht sinkt. Und schauen Sie sich die Gesamtsituation an: In der zweiten Säule sind über 80 Prozent überobligatorisch versichert und müssen bereits heute deutliche Renteneinbussen hinnehmen. Diese 70 Franken helfen auch hier. Was wäre denn die Alternative?
Das Gegenkonzept von SVP und FDP liegt bereits vor: Eine Kompensation innerhalb der zweiten Säule – ohne 70-Franken-Zustupf!
Dieses Gegenkonzept ist viel teurer. Ihr Plan B gleicht dem Plan A, der an der Urne schon deutlich gescheitert ist. Die jetzige Reform ist der Plan B, also ein Kompromiss, der das Rentenniveau garantiert.
Falls es am 24. September ein Ja gibt: Wann folgt die nächste Reform?
In den vergangenen 20 Jahren kam keine Reform mehr durch – zuvor gab es alle vier bis fünf Jahre eine. Wir können uns nur wünschen, dass es nicht wieder 20 Jahre dauern wird.
Werden Sie dann die wirklich heissen Eisen anpacken wie eine AHV-Schuldenbremse und eine Erhöhung des Rentenalters?
Ganz sicher wird das schwierig anzupacken oder schon nur zu diskutieren sein, wenn am 24. September ein Nein resultiert.
Wieso? FDP und SVP dominieren das Nein-Lager und fordern eine härtere Reform. Mit einem Nein ebnet das Stimmvolk den Weg dazu.
Das ist eine Behauptung. Man kann auch sagen: Ein Nein wäre ein Nein zum Frauenrentenalter 65 und ein Nein zum tieferen Umwandlungssatz. Das Referendum richtet sich gegen diese Punkte. Glauben Sie wirklich, die von SVP und FDP vorgeschlagene Lösung wäre mehrheitsfähig? Ich nicht. 2010 hat das Stimmvolk eine Senkung des Umwandlungssatzes, die weniger weit ging als die jetzige, mit einem Nein-Mehr von fast drei Vierteln bachab geschickt. Mit einem Nein verlieren wir nur unnötig Zeit für die dringend nötige Stabilisierung und machen sie schwieriger.
Werden Sie bei einem Nein Aussenminister?
Was ist denn das für eine Frage?
Wenn die Reform scheitert, werden Sie eine neue rechtsbürgerliche Reform kaum mittragen wollen.
Ich bin extrem glücklich im Innendepartement. Hier stehen die Menschen im Zentrum, die Solidarität und die Zukunftsfähigkeit. Ich mache meine Arbeit im Innendepartement mit Leidenschaft!
Selbst bei einem Ja wäre doch ein Wechsel reizvoll: Sie hätten eine wichtige Reform durchgebracht und könnten weiterziehen.
Auch die Umsetzung der Reform wird eine sehr spannende Periode. Zudem ist es nicht das einzige wichtige Projekt in meinem Departement.
Einen Departementswechsel schliessen Sie aber nicht aus?
Ein Wechsel ist nie ausgeschlossen.
Mit SVP-Bundesrat Guy Parmelin steht ein früherer Sozial- und Gesundheitspolitiker bereit, Ihr Departement zu erben.
Wissen Sie, wenn man in einem Bereich politisch aktiv war, kann es gut sein, mal in einem anderen Bereich zu arbeiten. Ich war ja vorher nicht stark als Sozialpolitiker aktiv und konnte so eine neue Betrachtungsweise einbringen.
Am 20. September wird ein neuer Bundesrat gewählt. Wünschen Sie sich weiterhin drei Romands im Gremium?
Die Bundesratswahl ist Sache des Parlaments. Es wäre keine gute Sache, wenn ich mich hier einmischen würde. Wichtig ist aber, dass ein neuer Bundesrat gewählt wird, der teamfähig ist und mit dem man gut für das Land zusammenarbeiten kann.
Im Sprachenstreit haben Sie sich immer für den Zusammenhalt des Landes und den Minderheitenschutz stark gemacht. Aus dieser Sicht müssen Sie sich für einen Tessiner Bundesrat stark machen!
Dazu will ich mich nicht äussern. Ich beobachte das Ganze aber mit Interesse.
Gute Chancen hat der Tessiner Ignazio Cassis. Als Krankenkassenlobbyist und Präsident der nationalrätlichen Sozialkommission ist er Ihr grosser Gegenspieler. Wie wär das mit ihm im Bundesrat?
Es ist eine der schönen Seiten meines Amts, dass alle im Bundesrat zusammenarbeiten.
Alain Berset (45) ist seit 2003 in Bundesbern aktiv. Zuerst vertrat der Freiburger seinen Kanton im Ständerat, den er 2008/2009 präsidierte.
Im Dezember 2011 wurde er als Nachfolger von Micheline Calmy-Rey in den Bundesrat gewählt. Seit Anfang 2012 steht Berset dem Departement des Innern vor.
2018 wird er zum ersten Mal als Bundespräsident amtieren. Berset ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
Alain Berset (45) ist seit 2003 in Bundesbern aktiv. Zuerst vertrat der Freiburger seinen Kanton im Ständerat, den er 2008/2009 präsidierte.
Im Dezember 2011 wurde er als Nachfolger von Micheline Calmy-Rey in den Bundesrat gewählt. Seit Anfang 2012 steht Berset dem Departement des Innern vor.
2018 wird er zum ersten Mal als Bundespräsident amtieren. Berset ist verheiratet und Vater dreier Kinder.