Die Ernüchterung im Bundesparlament ist gross. «Die Schweiz hat aus der AKW-Katastrophe in Fukushima nicht die richtigen Lehren gezogen», findet SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (60). «Man hat zu lange die Augen vor den Problemen verschlossen», doppelt Grünen-Fraktionschefin Aline Trede (37) nach. Und Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (44) meint: «Wir müssen nochmals grundlegend über die Bücher.»
Auf den Tag zehn Jahre sind vergangen seit dem Unfall in Fukushima. Es ist der 11. März 2011, als nach einem Erdbeben eine mehr als 13 Meter hohe Wasserwand auf Japans Ostküste zudonnert. Der Tsunami verwüstet ganze Landstriche, überrollt das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi und verursacht die grösste Atomkatastrophe seit Tschernobyl.
Die genaue Strahlenmenge, die freigesetzt worden ist, und die Zahl der Toten sind bis heute umstritten – viele Krebserkrankungen etwa treten erst nach Jahrzehnten auf. Heute gleicht das Gelände von Fukushima einem gigantischen Sarkophag. Noch bis zu 30 Jahre könnten die Entsorgungsarbeiten dauern.
«Der Grossteil der Bevölkerung wäre sich selber überlassen»
Der Jahrestag hat auch Parlamentarier auf den Plan gerufen. Wie gut ist die Schweiz tatsächlich auf einen AKW-Gau vorbereitet, wollen sie vom Bundesrat wissen. Das ernüchternde Fazit: nicht besonders gut.
Das zeigt sich einerseits beim unmittelbaren Schutz der Bevölkerung. Zwar wurden durchaus Evakuierungs-Konzepte erarbeitet. Sie beschränken sich aber auf 20 Kilometer rund um die Atomanlagen.
Der Bundesrat zeigt das am Beispiel des Kantons Zürich auf. Im Umkreis des AKW Beznau würden nur 13 Gemeinden mit rund 30'000 Personen evakuiert. Der grössere Teil des Kantons liegt ausserhalb der Notfallschutzzonen. «Für den Grossteil der Bevölkerung Zürichs gibt es offenbar keine konkreteren Evakuierungspläne. Das ist erschreckend», findet Simon Banholzer von der Schweizerischen Energie-Stiftung SES.
Mögliche Schäden wären nicht annähernd gedeckt
Ein anderes Beispiel ist die zu erwartenden Schadenhöhe. Gemäss Schätzungen sollen sie sich in Japan auf gigantische 300 bis 685 Milliarden Franken belaufen!
Auch für die Schweiz liegen Schätzungen vor. Sie reichen von 88 bis 8000 Milliarden. Gemäss Verursacherprinzip müssten die AKW-Betreiber diese Kosten übernehmen. Doch: Sie müssen einzig eine Versicherung über eine Milliarde abschliessen. Neu werden es 1,5 Milliarden Euro sein. Viel zu wenig, um einen möglichen Nuklearschaden decken zu können. Den grossen Rest müsste der Steuerzahler übernehmen. Hunderte von Milliarden!
Für Mitte-Links lässt das nur eine Schlussfolgerung zu: «Das bestätigt einmal mehr, dass die Nuklearenergie das Schadensrisiko nicht annähernd tragen kann. Wir müssen sie so schnell wie möglich abstellen», sagt Trede. Die Betreiber könnten solche Summen niemals zahlen, und kein Versicherer sei bereit, ein solches Risiko zu übernehmen. «Wir müssen die Haftungsfrage nochmals grundlegend überdenken», sagt auch Müller-Altermatt. «Ich sehe keinen anderen Ausweg als den Ausstieg aus der Atomenergie.»
Zu ganz anderen Schlüssen kommt etwa SVP-Nationalrat Albert Rösti (53). «Selbst angesichts solcher Summen bin ich gegen einen beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie – zumal ein derartiges Ereignis mit einem Tsunami in der Schweiz kaum realistisch ist», sagt der Präsident des Schweizer Wasserwirtschaftsverbands.
Bei einem beschleunigtem Ausstieg aus der Kernenergie aber könne die Schweiz die Stromversorgungssicherheit nicht rechtzeitig gewährleisten. Solange die Anlagen sicher seien, sei die Schweiz darauf angewiesen, betont Rösti: «Gerade wenn Grüne sogar Wasserkraftprojekte bekämpfen.»
«Die Schweiz ist beim Ausstieg auf halbem Weg stehengeblieben»
Bereits kurz nach dem Unfall in Fukushima hatte der Bundesrat offiziell den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Im Mai 2017 hiess das Volk die Energiestrategie 2050 und den damit den eingeschlagenen Weg gut.
Bis heute ist mit Mühleberg Ende 2019 aber erst ein Atomreaktor ausgeschaltet worden. Die anderen vier AKW, Beznau I und II, Gösgen und Leibstadt dürften noch jahrelang Strom liefern. Denn eine Laufzeitbeschränkung hatte das Stimmvolk im November 2016 abgelehnt. Die AKW bleiben so lange am Netz, wie sie als sicher eingestuft werden.
«Die Schweiz ist beim Ausstieg auf halbem Weg stehengeblieben», sagt Banholzer. «Heute gibt es gar keinen Ausstiegsplan mehr. Der Bund lässt es einfach vor sich hindümpeln.» Die weitere Entwicklung sei den AKW-Betreibern überlassen – bis sich der Staat irgendwann darum kümmern müsse. «Man kann das Problem aber nicht einfach aussitzen», findet Banholzer. «Entweder man stellt die AKW ab oder man schenkt der Bevölkerung zumindest reinen Wein ein.»