Der Mann, der sich in den Katakomben des Genfer Opernhauses als Sidi Larbi Cherkaoui (46) vorstellt, spricht leise und wirkt scheu. Dabei ist Cherkaoui einer der grössten Choreografen der Welt, inszeniert Opern, choreografiert Tanzstücke, Ballett, aber auch Musicals und Videoclips von Künstlerinnen wie Beyoncé. Nächste Woche feiert er Uraufführung mit seinem ersten Stück als Direktor des Grand Théâtre in Genf.
Wieso tanzen Sie?
Sidi Larbi Cherkaoui: Wenn mein Vater und meine Mutter etwas zu feiern hatten, dann spielten sie Musik und bewegten sich dazu. Es waren die einzigen fröhlichen Momente in unserer Familie. Nur wenn getanzt wurde, waren wir glücklich. Das hat mich geprägt. In der Schule in Antwerpen besuchte ich dann flämische Folklore-Tanzkurse.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Das waren traditionelle Kreistänze aus einer anderen Zeit. Das mochte ich, sie zu tanzen fiel mir leicht.
Sie tragen einen arabischen Namen. Gab es Reaktionen, weil Sie sich für traditionelle belgische Tänze interessierten?
Ich bin damit aufgewachsen, dass es hiess: Nein, das ist nichts für dich! Leider sind wir selektiv in unserer Wahrnehmung, was Herkunft angeht.
Wie meinen Sie das?
Nennen Sie mir einen Namen eines arabischen Malers, den Sie kennen.
Ich kenne keinen.
Sehen Sie? Auch ich werde in Belgien oft als Exot beschrieben, dabei ist meine Mutter Flämin. Ich bin Flame. Flandern war schon immer ein Schmelztiegel. Trotzdem wurde ich wegen meiner Herkunft konstant infrage gestellt.
Heute gibt es auch Diskussionen über kulturelle Aneignung.
Es gibt die reelle Gefahr, dass sich Menschen Elemente anderer Kulturen aneignen, ohne sich wirklich mit ihr zu befassen. Wer etwas nimmt, muss auch etwas geben. Allerdings glaube ich auch, dass es eine Illusion ist zu meinen, man könne Kulturen abkapseln. In meiner Kunst versuche ich, diese Abkapselung um jeden Preis zu verhindern.
Sie sind einer der bekanntesten Choreografen der Welt. Sie arbeiten mit den besten Tanzkompanien, an den grossen Opern, aber auch mit berühmten Künstlerinnen wie Beyoncé. Was interessiert Sie an der Popkultur?
Ich bin kein Kind mehr, aber ich finde es wichtig, dass man sich Kindheitsträume erfüllt. Als Kind der 80er wuchs ich mit diesen enorm starken schwarzen Frauen auf: Diana Ross, Tina Turner, Janet Jackson. Von diesen Heldinnen habe ich so viel erhalten; es freut mich, jetzt etwas zurückzugeben.
Wie ist es, mit Beyoncé zu arbeiten?
Sie ist sehr freundlich, grosszügig, und ihr Talent ist eindrücklich. Mit so jemandem zu arbeiten, ist eine einzige Freude. Beyoncé hat einen sehr tiefgründigen Zugang zu dem, was sie tut. Ich arbeite auch mit ihr, weil ich es wichtig finde, wofür sie steht: eine schwarze Frau aus den USA, die heute die ganze Welt prägt.
Geht die Zusammenarbeit weiter?
Ja, ich arbeite immer noch von Zeit zu Zeit mit ihr zusammen.
Welche Rolle spielt Hip-Hop in Ihrer Arbeit?
In der Schule versuchten wir, Breakdance zu imitieren. Was ich bis heute daran liebe: Breakdancer können ihren ganzen Körper als Drehpunkt brauchen. Den Kopf, die Schultern, den Ellenbogen, den Rücken. Der klassische Tanz ist da viel eingeschränkter.
Es ist schwierig, Sie künstlerisch einzuordnen.
Sind Sie denn einfach einzuordnen? Oder mögen Sie es, wenn Sie eingeordnet werden? Ich denke nicht. Mir ist es wichtig, kein Klischee zu werden. Menschen sind komplex und wandeln sich ständig.
Was ist das verbindende Element von dem, was Sie tun?
Menschlichkeit. Ich suche sie im Ballett, in der Oper, in Musicals, in Videoclips. Gerade feierte in Paris das Rock-Musical «Starmania» Premiere, für das ich die Choreografie machte. Da sind pro Aufführung 6000 Zuschauer im Saal. Ich will mit Menschen zusammenarbeiten, welche die Liebe zu etwas vereint und nicht die Ablehnung gegen etwas.
Wie würden Sie Ihre Choreografie beschreiben?
Für mich muss Tanz etwas Besinnliches haben. Es gibt Menschen, die den ganzen Tag aufs Meer hinausschauen, obwohl dort vermeintlich immer dasselbe passiert. Diese Qualität will ich mit meinen Choreografien erreichen. Sie sollen den Menschen guttun. Es soll sie beruhigen, befrieden. Und plötzlich beginnen sie, Nuancen zu entdecken in den Bewegungen – genau wie ein Mensch, der lange aufs Meer schaut.
Im Zuge der MeToo-Bewegung kamen in vielen Tanzkompanien Missbrauchsskandale ans Tageslicht, auch in der Schweiz. Hat Sie das überrascht?
Nein, ich habe selbst als 17-Jähriger Dinge erlebt, an die ich mich lieber nicht mehr erinnere. Es ist gut und gerecht, dass all diese Dinge jetzt ans Tageslicht kommen. Und gleichzeitig müssen wir auch sehr achtsam sein: Eine Umarmung, eine Hand auf der Schulter, ein Händedruck – das sind wunderschöne Formen der menschlichen Kommunikation, die wir nicht verlieren dürfen.
Auch im Tanz ist Körperkontakt wichtig.
Man berührt sich dauernd, unter den Tänzern, aber auch zwischen Choreografen und Tänzern. Wo und wann es für jemanden in Ordnung ist, berührt zu werden, ist sehr individuell. Ich bin da sehr sensibel; die Vorstellung, dass sich jemand wegen mir unwohl fühlen könnte, ist mir ein Graus. Gleichzeitig müssen wir auch schauen, dass immer alle Seiten angehört werden. Anschuldigungen können auch eine Waffe sein.
Sie können auf jeder Bühne der Welt arbeiten. Wieso haben Sie sich für die Schweiz, für Genf entschieden?
Für mich ist Genf wie eine Wegkreuzung, wo verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Wir sind nahe von Italien und Frankreich und Deutschland. Das ähnelt mir. Ich versuche auch gleichzeitig mit verschiedenen Dingen verbunden zu sein. Ich habe 2005 zum ersten Mal in Genf gearbeitet. Ganz zum Anfang meiner Karriere. Ohne Genf wäre meine Karriere nicht möglich geworden.
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