Noch vor einem Jahr gab es auf SRF eine Sendung, in welcher Kurt Aeschbacher (70) am Sonntagabend angenehme Gespräche mit Menschen führte, deren Leben hart und ungerecht ist. Inzwischen reicht das nicht mehr, SRF hat den Turbo eingeschaltet. Man hat die Rechte des belgischen Formats «Taboe» (deutsch: «Tabu») erworben und «Deville»-Sidekick Renato Kaiser (34) als Moderator für ein Format verpflichtet, das «an die Grenzen des Humors» gehen will.
Letzten Sonntag machte Kaiser Spässe über drei Schwerkranke – ihren Tod inklusive. Während er sich in Gesprächen mit den Protagonisten durchaus anständig verhält, wirkt er auf der Bühne verstörend. Er sei sich bewusst, dass den Betroffenen im Saal die Galle hochkommen könnte, wenn sie einen Abend lang einem St. Galler zuhören müssten. «Aber ich weiss gar nicht, ob alle von ihnen noch eine Gallenblase haben.»
Seltsame Pathologie
Kaisers Humor ist von seltsamer Pathologie. Kathrin Villiger leidet an einer Krankheit mit kompliziertem Namen. Sie hat eine totale intestinale Aganglionose, muss künstlich ernährt werden und ist kleinwüchsig. Die Ärzte hätten, so Kaiser, ihren Eltern einst gesagt: «Auswendig lernen müssen Sie die Krankheit vermutlich nicht.» Im Saal sitzt auch Lerna Scherer, die ohne Magen lebt. Ein Gendefekt ist der Grund für immer wieder neue Krebsgeschwüre. Kaisers Gag: «Was sagt ein Krebskranker, wenn du Witze über ihn machst? Ich kann dir eh nicht lange böse sein.»
CVP-Nationalrat Lohr: «Billiger Sauglattismus»
Dem Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr (57) bleibt dabei das Lachen im Hals stecken. «Da wird die Würde der Betroffenen verletzt. Bei diesem Humor fehlt mir die Tiefe», sagt er. Dabei betont Lohr – er lebt seit Geburt ohne Arme und mit fehlgebildeten Beinen –, durchaus über Sinn für Humor zu verfügen. Er sagt auch: «Grundsätzlich begrüsse ich es, wenn SRF nach neuen Wegen sucht, um Themen wie Behinderungen oder Krankheiten zu behandeln.» Das könne befreiend wirken. «Aber solche Gags sind billiger Sauglattismus.»
Renato Kaiser betont, dass er sich bei den Witzen sehr wohl etwas überlege. «Es bleibt aber eine Gratwanderung. Wenn ich mir bei den Witzen ganz viel gedacht habe und finde, doch, das geht, heisst das nicht unbedingt, dass ich recht habe.»
Komiker Cony Sutter: «Bei mir hat das nichts verloren»
Für den mit Lungenkrebs lebenden Komiker Cony Sutter (60) stellt sich generell die Frage, ob man Witze über Kranke machen darf. «Als Betroffener und Komiker sage ich klar Nein!» Er erlebe es oft umgekehrt: Dass Schwerkranke an die Vorstellungen ihres Duos Sutter & Pfändler kommen und danach sagen: «Endlich konnte ich wieder einmal herzhaft lachen!»
Sutter attestiert seinem Kollegen durchaus Gutes: «Er stellt subtile Fragen, es gibt viele schöne Bilder, man fühlt mit. Dass am Schluss Witze darüber gemacht werden, finde ich aber nicht nötig. Bei mir hat das nichts verloren.»
Letzten Sonntag dabei war auch Jules Wullschleger. Er sitzt wegen Multipler Sklerose im Rollstuhl. Gemäss Kaiser könnte er für andere Leute zur Attraktion werden, wenn er sich aus dem Rollstuhl aufrappelt. Alle könnten dann rufen: «Ein Wunder, Jesus ist auferstanden und geht ein bisschen wie ein Betrunkener.»
Ex-SRF-Wetterfrosch Alex Rubli: «Anfangs war ich skeptisch»
Alex Rubli (66) war einer der beliebtesten SRF-Wetterfrösche und leidet seit bald 12 Jahren an MS. «Anfangs war ich skeptisch, dann aber hat mich das Schicksal der drei sehr berührt», sagt er. «Manche der deftigen Sprüche zwischendurch fand ich aber etwas peinlich.» Man könne darin aber auch einen Schuss künstlerischer Genialität sehen, der zwar verstört, dafür aber neue Leute mit dem Thema konfrontiert oder andere aus dem Gähn-Modus holt.
Renato Kaiser sagte am Schluss seiner letzten Sendung. «Wenn das Leben dir den Tumor gibt, dann mach Humor draus.» Damit holte er noch 15,3 Prozent Marktanteil – deutlich weniger als «Aeschbacher». Vielleicht haben ein paar Zuschauer weggezappt, weil sie den Tremor bekommen haben?
Dass mit «Tabu» möglicherweise die Gefühle von Zuschauern verletzt werden, hat SRF einkalkuliert. «Doch negative Reaktionen gibt es bisher nur vereinzelt auf Social Media. Wer nur eine Pointe aus dem Stand-up-Teil sieht, kann einen falschen Eindruck erhalten», sagt Tom Schmidlin, Bereichsleiter Entwicklung & Comedy. Die Feedbacks jener Leute, die eine ganze Sendung gesehen hätten, seien keineswegs negativ. «Besonders positiv haben die Protagonisten reagiert. Mit ihnen sind wir auch nach Abschluss der Dreharbeiten in Kontakt. Grossen Zuspruch erhalten wir auch von Betroffenen und Verbänden.» Moderator Renato Kaiser sei von Anfang an stark eingebunden gewesen. «Seine Ausstrahlung, seine Haltung und seine Authentizität sind wichtig. Er hat einen hohen Anspruch und ein unglaublich gutes Gespür.» Am 8. September (SRF 1, 21.45 Uhr) läuft Folge 4, diesmal mit Übergewichtigen. «Die Diskriminierung von ‹dicken› Menschen ist in unserer Gesellschaft leider immer noch ein alltägliches Faktum», sagt Heinrich von Grünigen, Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung.
Dass mit «Tabu» möglicherweise die Gefühle von Zuschauern verletzt werden, hat SRF einkalkuliert. «Doch negative Reaktionen gibt es bisher nur vereinzelt auf Social Media. Wer nur eine Pointe aus dem Stand-up-Teil sieht, kann einen falschen Eindruck erhalten», sagt Tom Schmidlin, Bereichsleiter Entwicklung & Comedy. Die Feedbacks jener Leute, die eine ganze Sendung gesehen hätten, seien keineswegs negativ. «Besonders positiv haben die Protagonisten reagiert. Mit ihnen sind wir auch nach Abschluss der Dreharbeiten in Kontakt. Grossen Zuspruch erhalten wir auch von Betroffenen und Verbänden.» Moderator Renato Kaiser sei von Anfang an stark eingebunden gewesen. «Seine Ausstrahlung, seine Haltung und seine Authentizität sind wichtig. Er hat einen hohen Anspruch und ein unglaublich gutes Gespür.» Am 8. September (SRF 1, 21.45 Uhr) läuft Folge 4, diesmal mit Übergewichtigen. «Die Diskriminierung von ‹dicken› Menschen ist in unserer Gesellschaft leider immer noch ein alltägliches Faktum», sagt Heinrich von Grünigen, Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung.