Neue Historien-Serie «Frieden» beleuchtet die Schweiz in der Nachkriegszeit
SRF öffnet dunkles Kapitel

Es ist das TV-Projekt des Jahres: Das Schweizer Fernsehen dreht zurzeit den Sechsteiler «Frieden». SonntagsBlick war bei den Dreharbeiten vor Ort.
Publiziert: 31.08.2019 um 23:24 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2021 um 13:16 Uhr
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Annina Walt als Lehrerin in der neuen SRF-Serie «Frieden», die zeitlich in der Nachkriegsschweiz angesiedelt ist. Walt debütierte 2014 im «Tatort – Zwischen zwei Welten» als Emma Rossi von Michael Schaerer, der jetzt auch bei «Frieden» Regie führt.
Foto: Darrin Vanselow
Jean-Claude Galli aus Haut-Intyamon FR

Geisterhaft taucht beim Näherkommen das imposante frühere Lungensanatorium Le Rosaire aus dem Sommernebel auf, eine Szenerie wie in Thomas Manns Jahrhundert-Roman «Der Zauberberg», nur liegt der Schauplatz nicht in Davos GR, sondern im hintersten Greyerzerland. Im Inneren des verwinkelten Gebäudes aus den 1930er-Jahren ist es noch stiller als auf den regennassen Wiesen. Nur die riesigen Scheinwerfer, die grell die denkmalgeschützte Fassade ausleuchten, deuten den Ausnahmezustand an. «Und bitte», ruft Regisseur Michael Schaerer (44) in den trüben Speisesaal. Bewegung unter den Statisten, die an einem Holztisch sitzen. Ihre Blicke richten sich auf die beiden Protagonistinnen, Annina Walt (23) und Therese Affolter (67), die sogleich mit ihrem Text einsetzen.

Noch bis am Donnerstag laufen die Dreharbeiten zur neuen SRF-Serie «Frieden», die im zweiten Semester 2020 anläuft. Der Sechsteiler nach einer Idee von Petra Volpe (49, «Die göttliche Ordnung) ist im Jahr 1945 angesiedelt.

Grosse Kiste

Die erste Schweizer Nachkriegsserie ist eine wirklich grosse «Kiste». Das fiktionale History-Drama entsteht in Zusammenarbeit mit Zodiac Pictures und in Co-Produktion mit Arte. «Zuerst gingen wir für von sechs Millionen Franken Budget aus, mittlerweile sind wir bei rund acht», sagt Produktionsleiter Claude Witz (43). Die Dreharbeiten dauerten rund drei Monate und fanden im Kanton Glarus, auf der Zürcher Klosterinsel Rheinau, in Zürich, Bern und im Kanton Freiburg statt.

Der Plot: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wollen Fabrikantentochter Klara (Annina Walt) und ihr Bräutigam Johann (Max Hubacher, 26) gemeinsam in die Zukunft starten. Auch Egon (Dimitri Stapfer, 31), Johanns Bruder, hofft auf einen Neuanfang im zivilen Leben, nachdem er seinen Aktivdienst an der Grenze geleistet hat.

Porträt einer Generation

Urs Fitze (61), Leiter Fiktion bei SRF, sagt: «Es ist das Porträt einer Generation, die massgeblich daran beteiligt war, die Grundlage für den Wirtschaftsboom der 50er-Jahre zu legen und die Schweiz zu dem geformt hat, was sie noch heute ausmacht.» Dabei hat sich Fitze an Produktionen wie «Unsere Mütter, unsere Väter» beim ZDF orientiert. «Auch wir wollen ein Stück Zeitgeschichte aus der kollektiven Erinnerung unseres Landes erzählen und eine Auseinandersetzung damit ermöglichen.»

Dazu gehören die Flüchtlinge, die nach 1945 in die vom Krieg kaum zerstörte Schweiz kommen. «Le Rosaire» ist im Serien-Setting ein Heim für Kinder, die das Konzentrationslager überlebt haben. Therese Affolter spielt die stellvertretende Heimleiterin Elsie, seit den 1970er-Jahren ist die Schauspielerin ein international gefragter Theaterstar, unter anderem verkörperte sie 1988 das Dienstmädchen Herta in Thomas Bernhards epochalem Stück «Heldenplatz».

«Für mich ist es immer wieder aufs Neue erschreckend und nicht fassbar, dass Kinder dies überhaupt überleben konnten», sagt Affolter. «Die Kälte, die Todesmärsche, der Essensentzug, die Qualen und die Folter. Auch hier geht mir das wieder extrem nah.» Sie hat viel übers Thema gelesen und ihre Grossmutter hat ihr früher als Zeitzeugin wiederholt ihre Eindrücke geschildert. «Man fragt sich: Wie konnte das so sein und wie geschehen? Und man weiss auch: Es könnte wieder passieren. Vielleicht in einem anderen Zusammenhang, aber es ist leider durchaus möglich, jederzeit. Der Mensch ist nicht gefeit davor.»

Andere Zeit, andere Schweiz

Jungstar Annina Walt, die zuletzt als Bösewichtin in der finalen «Bestatter»-Staffel für Furore sorgte, findet es wie Affolter eminent wichtig, dass ein solcher Stoff auf Schweizer TV-Bildschirme kommt: «Die Schweiz in der Nachkriegszeit wurde während meiner Schulzeit nicht thematisiert. Die differenzierte Betrachtung erzählt aber unglaublich viel. Über unser Land, Menschlichkeit, Abgründe. Deshalb ist die Serie für mich von besonderer Tragweite.»

Historische Dokumente wie Fotos oder Filme haben ihr bei der Vorbereitung geholfen. «Ich konnte so die Körperhaltung der Leute von damals verinnerlichen.» Schwierigkeiten, gedanklich den Spagat zwischen 75 Jahren zu schaffen, hatte sie kaum. «Es war sogar hilfreich, abends nach dem Dreh als Ausgleich wieder in die heutige Realität zurückzukehren. Für mich persönlich war die grösste Herausforderung, inmitten von all den Statisten und der ganzen Aufregung stets fokussiert zu bleiben und das umfangreiche Drehbuch im Kopf zu haben.» Ihre Figur beschreibt sie als eigentliche Emanzipationsgeschichte. «Klara ist neugierig, lebenshungrig, aber auch gefangen in ihrer Welt. Sie lernt viel und entwickelt sich.»

Demgegenüber steht Therese Affolter als ruhende Kraft, historisch an die bekannte Flüchtlingsbetreuerin Charlotte Weber angelehnt. «Elsie ist eine aufrichtige und gerechte Frau. Sie setzt sich ein, lotet Grenzen aus und stellt sich gegen gewisse Order. Sie ist keine Revolutionärin, aber sie traut sich, etwas zu sagen. Sie findet, dass die Kinder nicht wieder Zucht und Ordnung brauchen, sondern zuerst Anteilnahme und Vertrauen erfahren müssen. Was nicht einfach ist nach dieser Erfahrung.»

Grosser Aufwand für die Authentizität

Für den Schauplatz Le Rosaire waren 80 Statisten als Heimkinder nötig. «Insgesamt arbeiteten wir mit 1200 Statisten. Dazu kamen die Crew und das Grundteam von rund 70 Leuten sowie 70 Schauspieler», beschreibt Produktionsleiter Claude Witz die Dimensionen des Drehs. «Bei einem historischen Film muss enorm viel vorausgedacht werden, nur schon, was die Kleidung und die Autos betrifft. In der Schweiz ist es zudem schwieriger, einen historischen Stoff umzusetzen, weil durch die gründlichen Renovationen viel von der originalen Bausubstanz verloren gegangen ist. Wir mussten vielfach das Äussere von Häusern patinieren und einen beträchtlichen Aufwand betreiben.»

Grundsätzlich schaut Witz auf gelungene Dreharbeiten zurück. «Zwei, drei kleinere Krankheiten und Verletzungen, aber nichts, was uns aus der Bahn geworfen hätte», sagt er in seinem Büro. Dann ist wieder die Stimme von Regisseur Michael Schaerer zu hören. «Und aus.» Allgemeine Bewegung, Mittagspause, die Menschen strömen nach draussen und durch den anhaltenden Regen ins trockene Zelt des Filmcaterers. Das Pouletcurry schmeckt vorzüglich. Essen ist stimmungshebend – und lebenswichtig und war es immer schon, 2019 wie 1945.

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