ESC-Gewinnerin Netta Barzilai über ihre schwierige Jugend
«Man sagte mir, ich sei dumm und hässlich»

Lange war ein Sieg am Eurovision Song Contest (ESC) nicht mehr so kontrovers wie ihrer: Mit Winkekatzen und Hühnergegackere sang sich Netta Barzilai in die Herzen des ESC-Publikums. Heute gibt sie sich selbstbewusst, ihre Schulzeit war allerdings sehr schwierig.
Publiziert: 30.05.2018 um 23:43 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 01:35 Uhr
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Die diesjährige Gewinnerin vom Eurovision Song Contest Netta Barzilai kleidet sich bewusst schrill.
Foto: Daniel Kaminsky
Michel Imhof

In ihrer Heimat wurde sie schon bei der ersten Live-Präsentation ihres Songs «Toy» wie eine Siegerin gefeiert. Durch ihren Triumph am Eurovision Song Contest ist sie nun eine Nationalheldin. Per Videotelefon unterhalten wir uns mit einer bodenständigen Netta Barzilai (25), die für ihren Erfolg viel einstecken musste. 

Vor den Proben am Eurovision Song Contest waren Sie die grosse Favoritin, während des Events stürzten die Wettquoten ab. Wie überrascht waren Sie bei Ihrem Sieg?
Netta Barzilai: Den Sieg hatte ich nie einfach in der Tasche. Als ich Favoritin der Wettbüros war, wollte ich nichts davon hören, es gab mir enormen Druck, und ich dachte, das bringe Pech. Als wir in Lissabon nach der ersten Probe in den Wettquoten fielen, war das das Befreiendste überhaupt. Es war super, nicht als Favoritin ins Finale zu gehen.

Und dann haben Sie trotzdem gewonnen.
Als wir im ESC-Finale auftraten, war die Stimmung nicht so energetisch wie im Halbfinale. Das hat mich verwirrt. Ich versuchte, mein Bestes zu geben, aber ich brauche auch die Energie des Publikums, um mich zu entfalten. Es hat sich jedenfalls nie so angefühlt, als würde ich den Sieg nach Israel holen.

Auf der Bühne wirkten Sie unglaublich selbstsicher. Jetzt geben Sie sich eher kritisch.
Jeder Mensch hat Unsicherheiten. Irgendwie ist das meine Art zu leben, ich glaube nie an einen Sieg von mir. Ich arbeite hart an meinen Zielen. Es ist zwar sehr kitschig, aber ich bin wirklich meine härteste Kritikerin.

Wie haben Sie sich während des Contests entspannt?
Das war süss: Meine Mutter mietete vor dem ESC-Finale in Lissabon ein Haus und hat mir nach einem harten Tag Schnitzel gekocht. Das hat mich sehr geerdet.

Ihr Siegersong «Toy» ist sehr kontrovers, vor allem das darin enthaltene Hühnergegackere. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Es steht für die Menschen, die andere schlecht behandelt haben. Mobbing entsteht meiner Meinung nach aus Angst, und wir haben nach einem modernen Klang gesucht, der für Angst steht. Mit dem Gegacker machen wir uns über Menschen lustig, die andere schlecht behandelt haben, und nehmen ihnen den Wind aus den Segeln.

Haben Sie selbst Erfahrung mit Mobbing gemacht?
Ja, ich hatte eine wahnsinnig schwierige Schulzeit und war dort immer anders als die anderen. Ich wurde als Letzte gewählt beim Sport, man sagte mir, ich sei dumm, hässlich und verdiene es nicht, mich mit den beliebten Kindern abzugeben. Ich habe das sehr lange geglaubt, darunter gelitten und mich zurückgezogen, weil ich nicht wollte, dass die Leute mich für komisch halten. Irgendwann realisierte ich, wie unglücklich ich bin, und zog nach Tel Aviv. Dort hat sich alles geändert, die Stadt ist liberal und offen für Leute wie mich.

War das schon in Ihrer Zeit in Nigeria so?
Nein, in Nigeria waren wir früher, bis ich sechs Jahre alt war. Dort hatten meine Eltern eine internationale Schule geführt, und ich war beliebt. Jedes Kind hatte eine andere Herkunft, und alle waren anders und doch irgendwie gleich. Da passte ich gut rein, eine schöne Zeit.

Und dann kamen Sie nach Israel.
Genau, dort wuchs ich im Norden von Tel Aviv, in Hod haScharon, auf und ging in eine Klasse mit vierzig Kindern, die alle gleich aussahen. Es gab keinen Platz für jemanden wie mich. Ich durfte nicht mich selbst sein, die Musik half mir in dieser Zeit. 

Jetzt kleiden Sie sich sehr auffällig und extravagant. Bewusst?
Das ist eine sehr wichtige Botschaft von mir. Die aktuelle Mode in grossen Grössen ist sehr deprimierend und altmodisch. Mir sagte man früher, dass ich keine kurzen Röcke, helle Farben, Badeanzüge und kurze Ärmel tragen solle. Davon halte ich nichts. Ich finde, auch üppigere Frauen sollen tragen, was sie wollen, und sich feiern, deshalb arbeite ich an der Diversität. Mit meinem Kleidungsstil zeigen ich, dass ich tragen kann, was ich will, und trotzdem gut aussehe und selbstbewusst wirke. Dabei orientiere ich mich an Trends und füge meinen eigenen Dreh hinzu. 

Es gibt grosse Diskussionen, wo und ob der ESC in Israel nächstes Jahr stattfindet. Was denken Sie darüber?
Das liegt nicht in meiner Hand. Israel ist ein sehr kleines Land. Tel Aviv und Jerusalem sind etwa 30 Autominuten voneinander entfernt, das ist fast die gleiche Distanz, die man in diesem Jahr vom Stadtzentrum Lissabons zur Konzerthalle hatte. Beide Städte wären gute Austragungsorte. Israel ist pulsierend und liberal. 

Sie waren einige Zeit in der israelischen Armee. Was haben Sie davon mitgenommen?
Ich war in der Band der Marine und habe in Schutzunterkünften für Kinder gesungen. Manchmal hörte man plötzlich Sirenen von draussen. Israel hat es nicht leicht, und jeder will, dass das alles endlich aufhört. Wir haben kein anderes Land zum Leben. Es war für mich ein Privileg, mit meiner Stimme den Kindern Hoffnung zu geben und sie glücklich zu machen. Egal, welcher Herkunft sie sind.

Können Sie seit Ihrem ESC-Sieg zivil auf die Strassen Israels gehen?
Nein, unmöglich. Alle springen mich mit ihren Telefonen an und wollen Fotos machen. Aber es gibt auch viele berührende Momente. Heute Morgen sass ich im Taxi eines streng religiösen Juden, der ja keine Musik von Frauen hören darf. Er sagte mir, dass seine Frau gerade eine Chemotherapie durchmacht und sie zu Hause heimlich meine Musik hören, weil das seine Frau glücklich macht. Wenn meine Arbeit vielen anderen Menschen hilft, gebe ich gerne mein Privatleben auf.

Wie sieht es bei Ihnen in der Liebe aus?
Ich bin Single und will mich auf meine Karriere fokussieren, aber bleibe auch offen, falls sich etwas ergibt. Ich hatte zwar schon Beziehungen, aber die richtig grosse Liebe habe ich nie erfahren. 

Am 16. Juni 2018 treten Sie an der Zurich Pride auf. Welche Verbindung haben Sie zur LGBT-Gemeinschaft?
Was für eine Frage! Ich habe den Eurovision Song Contest gewonnen! (Lacht) Ich werde oft danach gefragt und für mich ist es wirklich komisch, das zu beantworten. Mein ganzes Umfeld gehört der LGBT-Community an, und ich beurteile sie natürlich nicht nach ihrer sexuellen Orientierung. Was meine Arbeit angeht: Divas gefallen den LGBT-Leuten, und genauso brauchen Divas die Unterstützung der LGBT-Gemeinde. Sie geben mir eine Berufung, einen Sinn und machen mich glücklich. Es ist das Publikum, das es versteht, Party zu machen.

Was werden Sie in der Schweiz machen?
Ich werde kaum Zeit haben, aber ich will zumindest etwas Lokales essen. Käse, vielleicht sogar Fondue oder Raclette. Wenn ich mehr Zeit habe, will ich unbedingt das Land bereisen. Ich habe nur Gutes gehört.

Von der Marine zum ESC

Netta Barzilai (25) wurde durch ihren Sieg in der Castingshow «Rising Star» zur israelischen Vertreterin für den ESC 2018, den sie mit ihrem Song «Toy» am 12. Mai gewann. Ihre Kindheit verbrachte sie in Nigeria und Israel, nach der obligatorischen Militärzeit – sie sang in der Marineband – studierte sie elektronische Musik und sang auf Hochzeiten und in Bars, legte als DJane auf und arbeitete als Kindergärtnerin. Seit dieser Woche ist ihr Musikclip mit über 60 Millionen Aufrufen das meistgeklickte ESC-Youtube-Video.

Netta Barzilai gewann den Eurovision Song Contest 2018 für Israel.
Getty Images

Netta Barzilai (25) wurde durch ihren Sieg in der Castingshow «Rising Star» zur israelischen Vertreterin für den ESC 2018, den sie mit ihrem Song «Toy» am 12. Mai gewann. Ihre Kindheit verbrachte sie in Nigeria und Israel, nach der obligatorischen Militärzeit – sie sang in der Marineband – studierte sie elektronische Musik und sang auf Hochzeiten und in Bars, legte als DJane auf und arbeitete als Kindergärtnerin. Seit dieser Woche ist ihr Musikclip mit über 60 Millionen Aufrufen das meistgeklickte ESC-Youtube-Video.

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