Sie hat den Ärmsten der Armen geholfen und wurde deshalb 2004 zur «Schweizerin des Jahres» gewählt: Lotti Latrous (66). Drei Bücher wurden schon über die Entwicklungshelferin geschrieben, nun hat sie ihre Biografie verfasst. In «Was war. Was ist. Was zählt» blickt Latrous auf ihr bewegtes Leben zurück.
Als sie in ihrem Buch blättert und die Bilder ihrer Waisenkinder anschaut, kommen der zierlichen Frau mit den strahlend hellblauen Augen noch heute die Tränen. Beim Interview steht sie konsequent am Hochtisch, sitzen könne sie noch genug. Lotti Latrous steckt voller Tatendrang. Das war schon so, als sie vor 20 Jahren ihrem Ehemann und Nestlé-Direktor Aziz Latrous (72) nach Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, folgte. Anstatt am Pool zu liegen und sich bedienen zu lassen, besuchte die damals 46-jährige Schweizerin die Elendsviertel der Stadt, wo sie ihren «Schlüsselmoment» erlebte – von dem an nichts mehr wie vorher war: «Als ich sah, wie die Menschen abgemagert in Abfallsäcke gewickelt in ihrem eigenen Dreck liegen und an Aids sterben, konnte ich doch nicht mehr zurück in eine heile Welt voller Luxus gehen. Ich wusste, ich muss diesen Menschen helfen.»
Nachts plagte sie das schlechte Gewissen
Latrous eröffnet im Slum von Adjouffou ein Ambulatorium. Als ihre Familie nach Ägypten zieht, entschliesst sich die dreifache Mutter dazu, in Abidjan zu bleiben. Ihre jüngste Tochter Sarah war damals neun Jahre alt. «Ich habe meine Familie nicht verlassen, sie haben mich gehen lassen. Zum Glück, denn die Sterbenden hatten niemanden. Aber ich wusste, meine Kinder leben weiter, haben noch ihren Vater, der wunderbar zu ihnen schaut.» Doch gerade nachts sei sie oft vom schlechten Gewissen geplagt worden. «Wenn ich ein Kind in den Armen hatte und dann daran dachte, dass meine Tochter im selben Moment ein Plüschtier in den Armen hält, weil ich als Mami nicht bei ihr war. Das war schon schwer», sagt Latrous.
Doch der Drang zum Helfen war stärker als alles andere: Tausende Menschen begleitete die Schweizerin in den vergangenen 20 Jahren in den Tod und wird als «Engel in der Hölle» und «neue Mutter Theresa» gefeiert. Bezeichnungen, die Latrous nicht gerne hört: «Mitleid darf nicht sein, denn dann stellt man sich über die Betroffenen. Mitgefühl ist wichtig.» Für sie gelte: Liebe deinen nächsten mehr als dich selbst. «Ich bin mir selbst nicht so wichtig.» Schon immer lägen ihr die Ausgestossenen, Schwachen und Kranken am Herzen. «Der ‹normale› Mensch interessiert mich eigentlich nicht.»
Latrous erhielt Morddrohungen
Nur einmal hatte Lotti Latrous, zu deren Lebenswerk neben dem Ambulatorium noch ein Sterbespital und ein Waisenheim mit 80 Angestellten gehören, daran gedacht, aufzugeben. 2007 erkrankte sie an einer schweren Tuberkulose. Ihre Lunge war von Infektionen so geschwächt, dass sie bloss noch ein Volumen von 35 Prozent aufwies. Zu den körperlichen Belastungen kamen auch psychische hinzu. «Ich litt ich an einer Erschöpfungsdepression», erklärt Latrous. «Eine Mitarbeiterin hatte mich bestohlen, die ich daraufhin entlassen musste. Kurz darauf erhielt ich jeden Abend Anrufe mit Morddrohungen gegen mich und meine Familie.» Dies war selbst für die starke Latrous zu viel. «Ich konnte nicht mehr und bin zehn Monate lang weggegangen. Und dann kehrte ich wieder zurück an die Elfenbeinküste, weil ich hier in der Schweiz unglücklich wurde.»
«Keiner redet mehr zusammen»
Die Technologie in der westlichen Welt entmenschliche uns. «Keiner redet mehr miteinander, alle sitzen da und starren in ihr Handy. Menschen werden immer mehr von Computern abgelöst.» Überall kaufe man Tickets an Maschinen und zahle an Maschinen. «Kein Wunder, habt ihr hier so viele Selbstmorde», sagt Latrous. «In Afrika kennt man das nicht.» Obwohl sie hier aufgewachsen sei, könnte sie in der Schweiz nicht mehr leben. «Ich würde hier sterben. Ich würde eingehen wie eine Pflanze, die keine Sonne mehr hat.»
Im Alter sollen sich die Waisenkinder um sie sorgen
Ihre Sonne findet Latrous in ihrer Wahlheimat Grand-Bassam an der Elfenbeinküste. Dort verbringt sie – unterstützt von ihrem Ehemann Aziz – die Hälfte des Jahres in ihrem Hilfswerk, die andere Hälfte lebt das Paar in Genf. Doch ab nächstem Jahr wird Lotti, die von ihrer Tuberkuloseerkrankung vollständig geheilt ist, wieder mehr Zeit an ihrem Herzensort verbringen können: «Ich erfülle mir einen lang gehegten Traum: Wir bauen neben unserem Hilfswerk ein Dörfli für Obdachlose, die chronisch krank sind.» Dort wolle sie dereinst auch ihren Lebensabend verbringen. «Ich hoffe, dass sich dann meine Waisenkinder um mich kümmern und mich im Rollstuhl durch das Dorf kutschieren», sagt sie lachend.
Ein Happy End auch für Lotti Latrous' Familie, die sich mit der schwierigen Situation ausgesöhnt hat: «Ich habe heute eine sehr schöne Beziehung zu meinen Kindern. Vor allem auch zu Sarah, die als Neunjährige am meisten leiden musste», so Latrous. «Gerade neulich sagte sie mir, dass sie ohne meinen Einsatz für die Armen nicht zu dem Menschen geworden wäre, der sie heute ist – für mich das schönste Geschenk überhaupt.»