Robert Menasses Vision, wonach die Europäische Union ihre neue Hauptstadt in Auschwitz zu bauen habe, hat Sprengkraft. Sie kritisiert den aktuell grassierenden Nationalismus in der Gemeinschaft und unterstreicht die Bedeutung des einst formulierten gemeinsamen Ziels, das Grauen von Auschwitz nie zu vergessen und sich nie wiederholen zu lassen.
Die Zukunft der EU muss - so Menasse - eine kollektive, eine politische, eine friedenserhaltende sein. Keine, in der Länder in Konkurrenz nur ihren eigenen wirtschaftlichen Profit im Auge haben.
Tom Kühnel, der «Die Hauptstadt» am Theater Neumarkt inszeniert, gibt dieser Vision den nötigen Raum. Professor Alois Erhart (Sarah Sandeh mit Schnäuzchen) entwickelt die Idee als Referent einer von der EU-Kommision eingesetzten Reflection Group.
Er tut das allerdings nicht ruhig erläuternd und eindringlich, wie es Menasses Roman vorschreibt. Nein, immer gewaltiger donnert Erharts Stimme. Und wie die Lautstärke wächst das Pathos, was dazu führt, dass die Rede an visionärer Kraft verliert. Man ist versucht, dem Redner bei aller Sympathie ein mitleidiges Lächeln zu schenken.
«Die Hauptstadt» spielt sich auf nüchterner Bühne ab
Der Abend spielt sich ab auf einer nüchternen Bühne (Silvan Ammon, Thomas Bianca), einer leeren ovalen Spielfläche. Umschlossen ist sie von einer zweigeschossigen schwarzen Arena, wo das Publikum Platz nimmt.
Für Atmosphäre sorgen eine stimmige Soundkulisse (Polly Lapkovskaja) und auf den Boden projizierte Videos (Oliver Deichmann, Karl Gärtner, Jo Schramm). Zu Beginn zeigt sich ein trister Platz im Regen, wo Menasse das Schwein - «Da läuft ein Schwein!» - auf die Tour durch Brüssel schickt.
Über diesen Platz schlendern die Personen, die den Roman bevölkern: der EU-Bürokrat Kai-Uwe Frigge (Simon Brusis) etwa oder Martin Susman (Martin Butzke), der mit langen Haaren, dem melancholischen Blick und dem etwas ungepflegten Anzug (Kostüme: Daniela Selig) im Ensemble den authentischsten und überzeugendsten Eindruck macht. Er darf, schwermütig wie er ist, gewissermassen sich selber bleiben.
Ansonsten krankt die Inszenierung am Crescendo der Lautstärke und an der überbordenden Theatralik. Auch Fenia Xenopoulou (Marie Bonnet), an sich eine elegante Erscheinung, wird mitunter davon mitgerissen.
Sie nimmt karrierebewusst die Organisation des Jubiläumsprojekts «50 Jahre Europäische Kommission» an die Hand, setzt als Sherpa Martin Susman ein, muss sich dann aber mit dem EU-Beamten Strozzi einen Degenkampf liefern, der in die Lächerlichkeit abgleitet.
Je länger der Abend dauert, umso häufiger decken die Eskapaden den Text zu. Ein Tennisspiel hier, ein Tänzchen dort. Sein Buch, wofür der Wiener Autor den Deutschen Buchpreis 2017 erhalten hat, ist eine gut recherchierte, satirisch zugespitzte Analyse der europäischen Krise und eignet sich schlecht für Überdrehungen.
Ein Genuss ist deshalb der Erzähler Maximilian Kraus. Immer wenn er mit seiner schleppenden, tragenden Stimme im Off ans Mikrofon tritt, wird die literarische Qualität von Menasses Text fassbar. Man könnte Kraus stundenlang zuhören.
Dem Premierenpublikum hat der Abend gefallen. Den Höhepunkt erreichte der lange Beifall, als der Autor selber auf die Bühne kam, dies zu Recht. Der Besuch des gut dreistündigen Abends im Theater Neumarkt ersetzt nicht die Lektüre des fantastischen Buchs.
Verfasser: Karl Wüst, SFD