Arcadi Volodos im Interview
«Pianist ist nicht der lustigste ­aller Berufe!»

Arcadi Volodos gilt als einer der unbestritten grössten Pianisten der Gegenwart, er ist quasi «der Pianist unter den Pianisten». 
Eine nächtliche Begegnung.
Publiziert: 08.04.2019 um 10:25 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2019 um 10:30 Uhr
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«Als Musiker realisiert man, dass man nicht alles spielen muss. Dass aber, was man spielt, ganz toll sein sollte. Sonst lohnt sich der ganze Aufwand nicht!»
Interview: Michael Merz

Es ist 23 Uhr. Nach dem ­Konzert. Arcadi Volodos sitzt in einer nicht sehr ­grossen Garderobe. Reden mag er nicht. Also sitzt er hinter ­einem kleinen Konzertflügel und spielt. Beethoven? Schumann? Nein. Es sind verführerisch elegante ­Jazzharmonien, die sich in ­seinem Spiel zusammenfinden, modulieren, auflösen, neu fügen. Arcadi tut jetzt, was er selten tut. 
Er lächelt.

In einer Ecke sitzen drei junge Frauen und versuchen, sich aus der Musik einen Reim zu machen. Sie sind ratlos. Klangflächen schieben sich über- und ineinander. Die ­Finger des Pianisten, den viele 
zur Handvoll der grössten Musiker ­unserer Zeit zählen, huschen über schwarze und weisse Tasten. Sein Blick geht über den Flügel zur ­weissen Wand und scheinbar durch diese nach irgendwohin. Es ist, als ob Bill Evans (1929–1980), die amerikanische Legende des Modern Jazz, auferstanden wäre.

Bill Evans, ein vor fast 40 Jahren verstorbener Pianist des Modern Jazz, und ein russischer ­Meisterpianist des klassischen Repertoires. Wie kommen die bitteschön zusammen?
Arcadi Volodos:
Wie wohl? Durch Platten. Noch zu Sowjetzeiten, als Student, habe ich mich – anders kann man es nicht sagen – in diese Musik verliebt. Es gab natürlich 
ein Problem. Von Bill Evans’ Musik gab und gibt es keine Noten. Ich musste also mein Gehirn etwas ­anstrengen und gut zuhören. Dann habe ich mir die Musik zurecht­gelegt und so gespielt, wie ich denke, dass sie gespielt werden muss.

Das wäre …?
Es gibt heutzutage eine ganze ­Reihe von klassischen Pianisten, die sehr viel können. Manche sind ungeheuer gut darin, jene Kraft, jene Energie auszudrücken, die in den Noten steckt. Sie zeigen uns die Freude, das Glück, das in den Kompositionen drin liegt. Bill Evans aber kann noch etwas ganz anderes. Er weiss, wie man das Klavier zu Tränen rührt. In seiner Musik steckt eine tiefe Traurigkeit.

Das berühmte Lächeln unter 
Tränen?
Genau. Und da macht ein Pianist mit dem Publikum auch schon den Sprung in die klassische Musik. Zu Ravel und Debussy. Dabei sind klassische Musik und Jazz im Grunde genommen unvereinbar. Es ist Musik, die in zwei Welten zu Hause ist.

Und weil Sie ein Schlitzohr sind, tauchen auch in Ihren Aufnahmen, etwa im «1. Klavierkonzert» von Tschaikowski, für einen ­Moment Jazzrhythmen auf. Es wäre also keine grosse Sache, in Ihren ­Konzerten auch einmal ­Musik von Bill Evans aufzuführen?
Das ist doch eine völlig andere Welt. Ich kann zwar ganz toll im Stile Bill Evans’ improvisieren. Aber wenn man Jazz in der allerersten Kategorie spielen will, dann macht das für mich keinen Sinn. Da bin ich ein Amateur. Das geht wirklich nicht. Niemand kann zur gleichen Zeit in zwei Stühlen sitzen. Ich ­jedenfalls kann es nicht.

Aber die – fast klassische – ­Musik von George Gershwin müsste doch drinliegen?
Es gibt viele Gründe, dass ich diese nicht spiele. Ich bin ein ziemlich grüblerischer Mensch. Ich habe eine traurige Seite, die ich in der Musik wiederfinden muss, wenn ich sie wirklich gut spielen soll. Ausserdem bin ich jetzt in einem ­Alter – in drei Jahren werde ich 50 –, wo mit uns Menschen geschieht, was sich nicht erzählen, nur erfühlen lässt. Unsere Art, wie wir das Leben sehen, verändert sich. Wir spüren, irgendetwas geht zu Ende. Als Musiker realisiert man, dass man nicht alles spielen muss. Dass aber, was man spielt, ganz toll sein sollte. Sonst lohnt sich der ­ganze Aufwand nicht!

Aufwand? Sie sind als junger Mann wie ein Tsunami in die ­Klavierszene eingebrochen. Als Übervirtuose haben Sie eine Art von Konzerten, die man seit 100 Jahren vergessen glaubte, im Alleingang wiedererweckt. Heute macht kein junger Pianist Karriere, ohne dass er nach dem Konzert als Zugabe den «Türkischen Marsch» von Mozart spielt, den Sie zum superdiffizilen Showstück umgeschrieben haben.
Oh, wie ich diese Geschichte hasse! Es erinnert mich daran, dass ich 1986 meine Karriere als eine Art Fälschung begann! Man sagte von mir, ich sei der neue Horowitz, Rachmaninow, was immer. Und ich spielte das Spiel mit! Dabei war und bin ich eine völlig andere ­Person. Heute weiss ich, es war ­ver­lorene Zeit. Wenn man in der ­Musik nicht sich selbst sein kann. Wann dann? Glauben Sie mir, ich war ­unglaublich unglücklich.

Der «Türkische Marsch» hat ­überlebt!
Wenn ich den irgendwo höre oder sehe, dann komme ich mir um 25  Jahre zurückgeworfen vor.

Jeder Mensch hat das Recht, ­Fehler zu machen. Immerhin 
sind Sie heute der Mann für Rach­maninow, Skrjabin, Schubert oder wie jetzt in Zürich für Beethoven! Und sogar Bill Evans …
Da haben Sie mich auf ein schwieriges Gebiet geführt. Von Jazz ­verstehe ich wirklich nicht viel. Ich liebe diese Musik und muss noch enorm viel daran arbeiten.

Nun ja. Bill Evans ist Improvi­-
sa­tion. Und Sie improvisieren 
ja auch in Ihren klassischen ­Repertoires sehr gerne …
Das ist ein alter, lange vergessener Hut. Ab und zu gebe ich Masterclasses. Dann spielt mir vielleicht eine junge Pianistin oder ein Pianist ein, sagen wir, Prélude von Rachmaninow vor. Okay, sage ich dann, nun improvisieren Sie doch etwas in diesem Stil. Aber sie bringen keine drei eigenen Noten zustande.

Aber noch immer möchte ich ­eigentlich etwas darüber wissen, weshalb Sie erst seit ein paar Jahren Beethoven spielen.
Vergessen Sie nie, dass ich zu ­Hause viele Stücke spiele, die ich öffentlich niemals spielen würde. Da­runter sind sehr viele Komposi­tionen von Beethoven. Man spielt diese und unterhält sich auf diese Weise mit ihm. Sie können mir glauben: Er spricht dann zu einem. Beet­hoven, das ist die Bibel von uns ­Pianisten. Ihn richtig zu spielen … Dazu braucht es ein ganzes Leben.

Gibt es einen Moment, wo 
Sie ­erkannten, dass Sie 
davon ein Zipfelchen begriffen hatten?
Es gibt diesen Moment nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Beethoven selbst wusste, was er mit diesen Werken erschaffen hat!

Ihre Aussage ist ganz schön ­wagemutig.
Wenn Zeitgenossen darüber schreiben, wie unterschiedlich Beethoven seine eigenen Stücke gespielt hat … Wenn er selbst in seinen ­eigenen Werken so verschiedene Ansätze gefunden hat, wird meine Aussage stimmen. Sowieso ist das meine Erkenntnis: Je grösser die Musik, desto grösser sind die Möglichkeiten, sie zu interpretieren.

Sagen wir: Sie sind ausgeruht. Der Flügel ist perfekt gestimmt. Das Publikum ist auf Ihrer Seite. Wird das ein perfekter Abend?
Das kann ich nicht einmal dann sagen, wenn ich am Flügel sitze und noch keine Note gespielt habe. Es ist ein Mysterium. Vielleicht ahne ich es, wenn es während des Konzerts so ­ruhig wird, dass man eine Feder zu ­Bo­den fallen hört? Vergessen Sie nicht: Im Konzert sind wir stets drei. Der Komponist, der ­Interpret, das Publikum. Ein ­Element fehlt, und es fehlt der entscheidende Teil. Aber spü­re ich, dass die beiden anderen Elemente bei mir sind, hält die Zeit an.

Apropos Zeit. Jetzt ist bald ­Mitternacht. Ich bin müde. Sie scheinen putzmunter zu sein. Wie halten Sie das durch?
Ich gehe spät ins Bett und schlafe lange. Gegen Mittag komme ich in die Gänge. Abends um acht bin ich auf dem Höhepunkt meiner Möglichkeiten. Zeit für das Konzert. Nachher … Sie sehen es ja, komme ich langsam, langsam herunter. Da bin ich richtig auf dem Hund! Mein Geist leer, und ich bin ein wenig einsam. Ich vermisse meine Frau und noch mehr meine kleine Tochter.

Sie wissen, wofür Sie leben. Sie verbringen das Leben mit Dingen und Menschen, die Sie lieben.
Sie haben recht. Ich kenne eine ganze Reihe von Künstlern, die 
im Privatleben kein Glück hatten. Man kann im Beruf noch so viele Erfolge feiern. Ohne ein glückliches Privatleben sind sie nichts.

Sie haben also erreicht, was Sie sich immer gewünscht haben?
Wir alle, vor allem wir Künstler wissen: Wer stillsteht, dessen Entwicklung hört auf. Zufriedenheit schläfert ein. Unzufriedenheit treibt an. Fehlt diese, kann man genauso gut aufhören, Künstler sein zu wollen.

Sie sind sehr hart mit sich und Ihren Berufsgenossen.
Glauben Sie mir: Pianist zu sein, ist oft nicht der lustigste aller Berufe.

Arcadi Volodos, Tonhalle Orchester Zürich, Paavo Järvi 10., 11. und 12. April 2019 in der 
Tonhalle Maag

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