Kult-Autorin Sibylle Berg (56) ist zurück und nimmt in ihrem neuen Buch «GRM Brainfuck»* den Leser mit auf einen Höllenritt durch eine Endzeitwelt, die in einem hoffnungslosen England der nahen Zukunft spielt: Der Brexit ist Geschichte, die politischen und sozialen Missstände kaum mehr zu überbieten. Die Regierung ist zu einem reinen Überwachungsstaat verkommen, der jeden Schritt seiner Bürger mittels in die Hand implantierter Chips kontrolliert.
BLICK: Frau Berg, mit der düsteren Geschichte Ihres Buches läuten Sie quasi die Endzeit ein. Fühlen Sie sich in einer trostlosen Welt mehr daheim als in einer optimistischen?
Sibylle Berg: Weder noch. Für meinen Roman habe ich ein Jahr lang mit Wissenschaftlern gesprochen und in England recherchiert. Ich versuche die Frage, wohin sich unsere Gesellschaft bewegen wird, zu beantworten. Viele scheinen gerade wie gelähmt von der exponentiellen Beschleunigung, mit der die Digitalisierung unser Leben verändert, und dem Gefühl, dass die Minderheit der extrem Reichen einen Krieg gegen die armen Teile der Weltbevölkerung führt. England ist für beides – für den Einsatz der Digitalisierung und das scheinbare Abschaffen armer Teile der Bevölkerung – führend in Europa. Die Antworten, die ich gefunden habe, sind vielleicht verstörend – aber leider durchaus realistisch.
Also ist die Hoffnungslosigkeit in Ihrer Geschichte kein Stilmittel, sondern Ihre empfundene Realität?
Ich empfinde keine Hoffnungslosigkeit, sondern Wut wegen der verschenkten Möglichkeiten. Menschen sind die höchstentwickelte Spezies auf der Erde, und es scheint ihnen nicht zu gelingen, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen, obgleich sie die Möglichkeit dazu hätten.
Sie kritisieren die zunehmende Digitalisierung. Sind wir heute als Gesellschaft Sklaven des Internets und der sozialen Medien?
Sagen wir es so: Wir sind zunehmend abhängig vom Netz, und das ist – in der Form, in der es heute existiert – sehr gefährlich. Das Netz ist nicht sicher, alles kann gehackt werden: von Wahlen über Flugzeuge bis hin zu unseren privatesten Informationen, die zum Teil natürlich von uns freiwillig an Geheimdienste und Firmen verschenkt werden.
In Ihrem Buch verbringen Menschen bis zu acht Stunden täglich mit dem Starren auf «Endgeräte», wie Sie die digitalen Medien nennen. Wie ist Ihr eigenes Verhältnis zum Internet und dem Smartphone?
Ich liebe Technik, Rechner, Programmierfähigkeiten, und ich weiss zu viel über den Missbrauch, der mit Daten und der Netztechnik möglich ist, als dass ich das Netz uneingeschränkt lieben könnte. Es ist von einem freiheitlichen utopischen Raum zu einem Mittel der Manipulation und Überwachung geworden. Zu einem Ort, in dem es möglich ist, Menschen zu manipulieren, Wahlen zu beeinflussen und Gewalttaten zu streamen. Das Netz hat sich zu einem kapitalistischen Monster entwickelt.
Wie können wir als Gesellschaft dieses Monster bezwingen?
Die Hoffnung, die ich habe, ist, dass es sich um eine Übergangsphase der Masslosigkeit und Überforderung handelt und dass in zehn Jahren das Netz in der Form, wie wir es kennen, mehr oder weniger nicht mehr existiert. Es werden sich Gegenbewegungen zu den Big Playern, die das Netz heute unter sich aufteilen, entwickeln. Und die Menschen werden es intelligent verwenden.
Ein 2016 über Sie erschienener Dokumentarfilm heisst «Wer hat Angst vor Sibylle Berg?». Wer hat denn nun wirklich Angst vor Ihnen?
Angst vor Büchern und Texten ist eine seltene pathologische Störung. Ich kann Ihnen dazu nichts sagen, weil mir die entsprechende Ausbildung fehlt.
Würden Sie sich als Menschenfreund bezeichnen?
Ich mag Menschen, die meinen moralischen Standards entsprechen. Meine Standards heissen vereinfacht: Nötige niemandem deinen Lebensentwurf auf, sei freundlich, belästige keinen, bereichere dich nicht an anderen, verzehre keine Lebewesen mit neuronalen Netzen und verstehe dich als Teil von allen.
Sie haben in Ihren Büchern mehrfach auch das Thema Beziehungsverhalten beleuchtet. Wie erleben Sie Liebe und Begehren heute?
Ich habe ein Buch über eine Paarbeziehung geschrieben – «Der Tag, an dem meine Frau einen Mann fand» – und damit versucht, die Seltsamkeit lebenslanger körperlicher Treue zu erforschen. Die Untersuchung hatte mich interessiert, da es für mich keinen Zusammenhang zwischen Liebe und Sex gibt. Ansonsten interessiert mich das Thema Sex nur, wenn er Ausdruck von Machtstrukturen ist. Aber selbst dann nur mässig.
Was schätzen Sie an Ihrer Wahlheimat Zürich am meisten?
Ich wollte immer in der Schweiz leben, warum, weiss ich nicht. Heute, nach über 20 Jahren, ist mir klar, dass es die Menschen sind, bei denen ich mich hier zu Hause fühle. Die meisten haben eine Art zurückhaltender Behutsamkeit, die mir sehr entspricht.
In den 2000er-Jahren haben Sie mit Sängerin Sina zusammengelebt. An welche Erlebnisse aus dieser Zeit erinnern Sie sich besonders gern zurück?
Ich habe in einem Crashkurs Walliserdeutsch gelernt und wurde dadurch zur geprüften Dialektversteherin. Die Reisen zu Konzerten, bei denen ich das Land kennenlernte, und so viele freundliche Musikerinnen waren das schönste damals.
Haben Sie heute noch Kontakt?
Ja, wir sehen und schreiben uns. Leider habe ich es bei den letzten Platten nicht geschafft, Texte für sie zu schreiben.
Was wäre Sibylle Berg, wenn sie nicht eine berühmte Schriftstellerin wäre?
Wäre ich nicht Schriftstellerin, wäre ich sehr wahrscheinlich Wissenschaftlerin.
Wie würde der Titel des Buches über Ihr Leben lauten?
Gleich fertig.
* GRM ist die Abkürzung für die Musikrichtung Grime , heisst auf Englisch: Schmutz; Brainfuck ist der Name einer esoterischen Programmiersprache.
Sibylle Berg wurde als Tochter eines Musikprofessors und einer Bibliothekarin in Weimar (damalige DDR) geboren. Gleich mit ihrem Erstlingswerk gelang ihr 1997 der Durchbruch. Neben Romanen schreibt die polarisierende Autorin auch Essays, Kolumnen und Theaterstücke und wurde unter anderem 2019 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet. Letztes Jahr sorgte Berg in der Schweiz auch politisch für Furore: Sie brachte ein Referendum gegen das sogenannte «Sozialdetektiv-Gesetz» zustande. Mit dem Roman «GRM. Brainfuck», der im April 2019 erschien, feierte sie ihren bisher grössten Bestsellererfolg.
Sibylle Berg wurde als Tochter eines Musikprofessors und einer Bibliothekarin in Weimar (damalige DDR) geboren. Gleich mit ihrem Erstlingswerk gelang ihr 1997 der Durchbruch. Neben Romanen schreibt die polarisierende Autorin auch Essays, Kolumnen und Theaterstücke und wurde unter anderem 2019 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet. Letztes Jahr sorgte Berg in der Schweiz auch politisch für Furore: Sie brachte ein Referendum gegen das sogenannte «Sozialdetektiv-Gesetz» zustande. Mit dem Roman «GRM. Brainfuck», der im April 2019 erschien, feierte sie ihren bisher grössten Bestsellererfolg.