Tochter Ruth über ihren berühmten Vater
«Ich wollte nie eine Dürrenmatt sein»

Sie konnte nicht lesen. Er konnte es nicht verstehen. Das Drama einer Tochter, die geliebt werden wollte.
Publiziert: 04.11.2015 um 15:16 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:42 Uhr
Tochter von Dürrenmatt liest aus «Die alte Dame»
1:35
:Tochter von Dürrenmatt liest aus «Die alte Dame»
Von Cinzia Venafro

Dieses Gesicht. Diese Statur. Dieser schläfrige und misstrauische Blick. Ihren Vater konnte Ruth Dürrenmatt (64) schon aufgrund ihres Aussehens nie leugnen. Und doch versuchte sie es. Jahrzehntelang. Bis jetzt.

«Ich bin Frau Dürrenmatt!», begrüsst die alte Dame lautstark den Mann am Empfang im «Centre Dürrenmatt», oberhalb von Neuenburg. Im stattlichen Anwesen, von Stararchitekt Mario Botta (72) zu einer Art Pilgerstätte für Dürrenmatt-Fans umgestaltet, wuchs des Dichters «Ruthli» mit zwei Geschwistern und Mutter Lotti auf.

Ein halbes Jahrhundert später kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück. Sie wiederholt lautstark: «Ich bin Frau Dürrenmatt!» und betritt bedächtig die einstige Bibliothek ihres Literatenvaters. Fein säuberlich sind sie hier aufgereiht:  «Der Verdacht», «Der Besuch der alten Dame», «Die Physiker»: Jeder Schweizer erkennt die Buchdeckel von weitem. Mindestens eines der Werke haben die meisten im Bücherregal zu Hause.

Den Vater immer im Nacken: Ruth Dürrenmatt musste in die USA auswandern, um dem Schatten des Nationaldichters zu entkommen.
Foto: Jorma Müller

Ruth Dürrenmatt nimmt «Die alte Dame» zur Hand, spricht einen Monolog der Claire Zachanassian, lacht hemmungslos. Plötzlich stimmt die ausgebildete Opernsängerin eine Arie an, tänzelt, vergisst für einen Moment die Wucht ihres Körpers, der sie seit Jahrzehnten zur Langsamkeit zwingt. «Je älter ich werde, desto lieber kehre ich hierhin zurück», sagt sie. Denn hier, im «Centre Dürrenmatt», zählt Ruth. Hier ist ihre Familiengeschichte keine Bürde, ihre Fülle vererbt, sie ist die Tochter des abwesenden Stars. «Aber eigentlich wollte ich mein Leben lang alles sein, nur eines nicht: eine Dürrenmatt!»

Die jüngste Tochter von Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) war «kein einfaches Kind», wie sie betont. Lernschwach und auffällig, «und still sitzen war fast unmöglich». Aber der Vater konnte sie mit seinen Geschichten beruhigen. «Ich erinnere mich, wie er für uns Kinder dichtete. Ich sass auf seinem Schoss und war glücklich. Und dann kam der Tag, an dem er mich zwang, selbst zu lesen.»

Das Drama beginnt: Denn Ruth Dürrenmatt ist Legasthenikerin, gilt als unterdurchschnittlich intelligent und besucht eine Schule  für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. «Vater schämte sich, weil ich so lange nicht lesen konnte. Ich habe sogar versucht, seine Texte Wort für Wort zu entziffern. Aber ich verstand den Zusammenhang nicht. Und Vater konnte es nicht begreifen. Ich glaube, er war während meiner Kindheit nie wirklich stolz auf mich.»

Rare Familienmomente: Barbara, Peter, Mutter Lotti, Friedrich Dürrenmatt mit Tochter Ruth (v. l.) auf dem Schoss. Im Kinofilm «Dürrenmatt – eine Liebesgeschichte» blickt die Familie zurück auf den Nationaldichter.
Foto: Jorma Müller

Der «geduldete Verrückte», wie sich der Emmentaler Pfarrerssohn selbst bezeichnete, sei Patriarch gewesen. «Er hat unsere Mutter in Beschlag genommen», sagt Ruth Dürrenmatt. «Lotti war seine erste Leserin, Zuhörerin und Gegenspielerin. Ohne ihre Anmerkungen konnte er kein Stück schreiben.» Die 1983 verstorbene Schauspielerin Lotti Geissler († 64) hatte ihre Karriere für den Mann geopfert, wurde mit dem Älterwerden der Kinder depressiv. «Wenn es Lotti schlecht ging, litt auch Vater», sagt Ruth. «Er brauchte sie zum Atmen.»

Selbstzweifel hätten den Dichter fast zerfressen, berichten Weggefährten. Dazu Existenzängste, die erst der Erfolg der «Alten Dame» 1956 milderte. «Er war einer, der immer so auftrat, dass man nicht merkte, wie verletzlich er war», sagt Ruth. «Wenn er schrieb,durften wir Kinder toben. Aber wehe, er redigierte oder schrieb ein Stück zum zehnten Mal um! Dann mussten wir still sein.» Dürrenmatt, berühmt dafür, ein Buch jahrelang umzuschreiben, war meist in der «Toben verboten»-Phase. «Vater formte ganze Universen. Platz für eine eigene Welt war da keine für uns Kinder.»

Ein Moment Glückseligkeit: Wenn Dürrenmatt singt, vergisst sie ihre Sorgen.
Foto: Jorma Müller

Heute besitzt Ruth alle literarischen Werke ihres Vaters. «Ohne Widmung», sagt sie. Hegt die Tochter einen Groll gegen den Mann, der mit seinem Auflehnen gegen Konventionen zum gefeierten Autoren wurde? «Groll nicht», sagt sie. Aber ohne die 25 Jahre in Florida, wohin Ruth Dürrenmatt als junge Frau floh, hätte sie sich nie mit ihrem Vater versöhnen können. «Und jetzt bin ich zu Vaters alter Dame geworden», sagt sie. «Ganz ohne mich zu rächen.»

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