2015 stieg die Schweiz mit «Der Kreis» von Stefan Haupt (56) ins Oscar-Rennen und schickte die Protagonisten Ernst Ostertag (87) und Röbi Rapp (87) auf Promo-Tour in die USA. Der Film thematisierte die Zürcher Schwulenorganisation, in der sich Ostertag und Rapp engagiert hatten. Seither gelten die beiden als bekanntestes Schwulenpaar der Schweiz, 2003 liessen sie ihre Partnernschaft als Erste in der Schweiz eintragen.
Was damals kaum jemand wusste: Röbi Rapp stand bereits als Bub im Fokus einer grossen Filmproduktion. Als Zehnjähriger spielte er die Hauptrolle im 1941 erschienenen Film «Das Menschlein Matthias» von Edmund Heuberger (1883–1962), basierend auf dem Roman von Paul Ilg (1875–1957).
Die Mutter war Garderobiere im Schauspielhaus Zürich
1937 starb Rapps Vater. Weil es keine Witwenrente gab, musste seine Mutter Maria tagsüber als Wäscherin und Putzfrau arbeiten, abends war sie Garderobiere im Schauspielhaus Zürich. «So kam ich in Kontakt mit der Theaterszene und wurde für den Film angefragt», erinnert sich Rapp.
«Es gab noch andere Buben, die in Frage gekommen wären. Doch ich hatte ein persönliches Empfehlungsschreiben vom grossen Regisseur Leopold Lindtberg.» Rapp bekam von der Gotthard-Film einen Arbeitsvertrag über die Zeit der «Dreharbeiten vom 19. Oktober 1940 bis Ende des Jahres». Die Gage betrug 500 Franken – viel Geld zu jener Zeit. Weil Rapp während des Filmdrehs nicht zur Schule gehen konnte, erhielt er einen Privatlehrer. «Ich habe aber auch bei den Dreharbeiten eine Menge gelernt, vor allem Disziplin und Pünktlichkeit.»
Rapp fühlte sich dem «Menschlein Matthias» sehr verbunden. «Ich musste nach dem Tod meines Vaters früh Verantwortung übernehmen.» Matthias lebt als Verdingbub auf dem Gupf im Appenzellischen bei der herrschsüchtigen Schwester seiner Mutter, gespielt von Walburga Gmür.
Coaching durch den grossen Sigfrit Steiner
«Anders als im Film war sie hinter den Kulissen sehr nett zu mir», sagt Rapp. Wie auch die anderen Schauspieler, darunter bekannte Namen wie Leopold Biberti, Petra Marin, Ditta Oesch oder der junge Sigfrit Steiner, der gleichzeitig für die Dialogregie verantwortlich zeichnete. Er war der Coach von Rapp und brachte ihn sicher durch die turbulenten Tage.
Rapp erzählt mit leuchtenden Augen von der Actionszene am Schluss des Films im eiskalten Bodensee. «Mein Filmvater Biberti und ich wurden aus Sicherheitsgründen gedoubelt.» Es war aber eine andere Szene, die beinahe mit einem schlimmen Unfall geendet hätte: Weil er zu spät nach Hause kommt, will die Verdingmutter Matthias in den Keller sperren. Der Bub stolpert bei der Schwelle der Falltür und fällt beinahe auf den im Keller montierten feuerheissen Scheinwerfer. Das Erschrecken von Schauspielerin Gmür im Film ist echt und nicht gespielt!
Anders als das Buch endet der Film mit einem Happy End. Romanautor Ilg war darüber nicht sehr erfreut. Rapp glaubt aber, dass genau dies einer der Gründe für den Erfolg des Films gewesen ist.
Schon vor über 70 Jahren wusste die Schweiz vom Drama der Verdingkinder – und tat nichts: Das zeigt der Film «Das Menschlein Matthias», der 1941 ins Kino kam und auf dem gleichnamigen Roman von Paul Ilg (1875–1957) von 1913 (Reprinted by Hubert/Orell Füssli, 48 Fr.) basiert.
Aus finanziellen Gründen schickt die Mutter ihren unehelichen Sohn zur strengen Schwester in ein Wirtshaus im Appenzellischen, wo der Bub sein Kostgeld mit Hausieren verdienen muss und von geizigen Bauern übel traktiert wird. Bringt er kein Geld heim, wird er in den Keller gesperrt.
Dramen dieser Art erlebten Tausende Schweizer Kinder bis tief in die Nachkriegszeit. Erst 2011 brachte der Film «Der Verdingbub» von Markus Imboden (61) das Thema ins öffentliche Bewusstsein.
Schon vor über 70 Jahren wusste die Schweiz vom Drama der Verdingkinder – und tat nichts: Das zeigt der Film «Das Menschlein Matthias», der 1941 ins Kino kam und auf dem gleichnamigen Roman von Paul Ilg (1875–1957) von 1913 (Reprinted by Hubert/Orell Füssli, 48 Fr.) basiert.
Aus finanziellen Gründen schickt die Mutter ihren unehelichen Sohn zur strengen Schwester in ein Wirtshaus im Appenzellischen, wo der Bub sein Kostgeld mit Hausieren verdienen muss und von geizigen Bauern übel traktiert wird. Bringt er kein Geld heim, wird er in den Keller gesperrt.
Dramen dieser Art erlebten Tausende Schweizer Kinder bis tief in die Nachkriegszeit. Erst 2011 brachte der Film «Der Verdingbub» von Markus Imboden (61) das Thema ins öffentliche Bewusstsein.
Kinobesuche waren eine Seltenheit
Die Premiere in Zürich fand am 19. März 1941 im heute verschwundenen Kino Rex an der Zürcher Bahnhofstrasse statt. «Da sah ich den Film erstmals in voller Länge», sagt Rapp. Kinobesuche hatten für ihn Seltenheitswert. «Ich hatte gar keine Zeit. Ab fünf Uhr morgens arbeitete ich als Ausläufer in einer Bäckerei. Und nach der Schule lieferte ich Käse und Fleisch aus. Mein allererster Film war 1939 ‹Der Zauberer von Oz› im Apollo. Die hatten eine tolle Orgel, daran erinnere ich mich noch gut.»
2016 war es «Die letzte Chance» von Leopold Lindtberg (1902–1984), dieses Jahr ist es «Das Menschlein Matthias» (am 5. Oktober).
Seit vier Jahren zeigt das Zurich Film Festival restaurierte Schweizer Filmklassiker, die vor dem Zerfall gerettet wurden. Bis in die 1950er-Jahre wurde mit Nitratfilm gedreht, der sich selber zersetzt.
«Die Cinémathèque suisse, Memoriav und die SRG haben ein grosses Interesse daran, unser Filmerbe nicht nur langfristig zu erhalten, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ein Filmfestival bietet dafür eine ideale Gelegenheit. Dass neben Locarno und Solothurn auch das Zurich Film Festival ein besonderes Schaufenster bietet, erfüllt uns mit grosser Freude», sagt Memoriav-Direktor Christoph Stuehn (43).
2016 war es «Die letzte Chance» von Leopold Lindtberg (1902–1984), dieses Jahr ist es «Das Menschlein Matthias» (am 5. Oktober).
Seit vier Jahren zeigt das Zurich Film Festival restaurierte Schweizer Filmklassiker, die vor dem Zerfall gerettet wurden. Bis in die 1950er-Jahre wurde mit Nitratfilm gedreht, der sich selber zersetzt.
«Die Cinémathèque suisse, Memoriav und die SRG haben ein grosses Interesse daran, unser Filmerbe nicht nur langfristig zu erhalten, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ein Filmfestival bietet dafür eine ideale Gelegenheit. Dass neben Locarno und Solothurn auch das Zurich Film Festival ein besonderes Schaufenster bietet, erfüllt uns mit grosser Freude», sagt Memoriav-Direktor Christoph Stuehn (43).
«Das Menschlein Matthias» kam nicht nur beim Publikum gut an, sondern auch bei der Presse. «Dem Kleinen gelingen bereits Dinge, die sogar den erwachsenen Darstellern heikel sind: der staunende Blick, das erschreckte Zögern, das Resignieren», schrieb die NZZ in ihrer Filmbesprechung.
Der Film schaffte es an die Biennale in Venedig
Der Film wurde nach Ungarn exportiert, nach dem Krieg wollten ihn die Franzosen und Belgier, und er war Wettbewerbsbeitrag an der Biennale Venedig. Doch Rapps Karriere endete so schnell, wie sie begonnen hatte. «Als ich in die Pubertät kam, wirkte ich sehr androgyn, das war damals nicht gefragt.» Dazu kamen die Kriegswirren, und es fehlte das Geld für die Schauspielschule.
«Es bedeutet mir sehr viel, dass der Film nun nach so vielen Jahren neu wieder herauskommt. So sehe ich auch, wie abwechslungsreich mein Leben gewesen ist. Und wenn ich mir zuschaue, denke ich, dass ich das gar nicht so schlecht hinbekommen habe mit der Schauspielerei.»