Martin Walser ist optimistisch
«Ich vertraue auf die Schweiz – es passiert nichts Schlimmes»

Schriftsteller Martin Walser (88) über SMS, alte Liebe, Freitod und die bevorstehende Abstimmung.
Publiziert: 25.02.2016 um 20:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 15:25 Uhr
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Generationen-Gespräch: Schriftsteller Martin Walser (88) und Journalistin Cinzia Venafro (28).
Foto: Philippe Rossier
Cinzia Venafro (Interview), Philippe Rossier (Fotos)

Seine Augenbrauen sind länger als seine Sätze, sein Blick ist intensiv. Zum Gespräch im Zürcher Traditions-Gasthaus Kindli bestellt Martin Walser (88) «ein Bierchen», tippt zuvor schnell ein SMS mit seinen prankenhaften Händen.

BLICK: Martin Walser, in Ihren Texten wird gesimst, gemailt und eingeloggt – ist das Digitale Segen oder Fluch?

Martin Walser: Soweit es mir möglich ist, es zu bedienen, ein reiner Segen! (Hält sein iPhone hoch.) Das ist ein Wunderapparat! Ohne ihn wäre ich verloren. Aber es ist schon komisch, dauernd muss ich eine neue ID hinterlegen – als ob ich gar nie da gewesen wäre.

Schreiben Sie Ihre Texte trotzdem noch von Hand?

Damit habe ich nie aufgehört. Danach diktiere ich alles einer wunderbaren Software.

Meine Generation macht sich die Sprache per SMS zu eigen. Kritiker bemängeln, das sei eine Verrohung der Sprache.

Wieso soll die verrohen? Die Sprache ist immer mächtiger als das, was man mit ihr anstellt. Und SMS sind eine wunderbare Ausdrucksvariation. Jeder entwickelt von selbst seinen eigenen SMS-Stil. Diese Verknappung ist fabelhaft.

Wir seien nicht nur schreib-, sondern auch lesefaul, wird meiner Generation oft vorgeworfen.

Ich habe drei Enkel, die lesen wie eh und je! In meiner Klasse damals waren wir 24 Schüler, nur drei davon Leser – die anderen haben kaum je ein Buch aufgeschlagen.

Sie waren ab 1945 in Kriegsgefangenschaft und kümmerten sich dort um die ­Bibliothek. Haben Buchstaben Ihr ­Leben gerettet?

Ich habe als Siebenjähriger mit Karl May angefangen, und seither ist Lesen mein Sauerstoff. Insofern ja.

Geschrieben haben Sie nun mit «Ein sterbender Mann» wieder ­einen Roman. Darin wird der 72-jährige Theo Schadt «wie vom Blitz getroffen», so sehr verliebt er sich in eine «Lichtgestalt». Verliebt man sich mit 72 anders als mit 28?
Beim Verlieben, glauben Sie mir das bitte, gibt es keinen Unterschied. Das ist wie Kopfweh, das fühlt sich mit 19 an wie mit 89. Aber Sie können mich fragen, ob man sich dann noch verliebt ...

... das muss ich nicht fragen, das beweisen Sie mit Ihrem Buch.
Genau!

Die späte Liebe darin wächst über Briefe und E-Mails. Inwiefern ist es anders, wenn man sich nicht trifft? Online-Partnerbörsen sind voller Suchender.
Ich habe mit «Das 13. Kapitel» einen als Liebesroman anerkanntes Buch geschrieben – die Liebenden treffen sich nie, sind nie zusammen ins Hotel, haben sich nur schriftlich … In «Ein sterbender Mann» ist es wieder so gekommen. Ich gebe solchen Notwendigkeiten nach, schreibe wieder einen Liebesroman, der keine Bettgeschichte wird.(lacht). Und ich sage Ihnen: Es ist etwas sehr Schönes, dass alles in der Sprache stattfindet. Es gibt eine Intensität des Sprachlichen, die kann in keinem Hotelzimmer …

... mit keiner Körperlichkeit erreicht werden? Die Sprache ist stärker als Sex?
Ja! Sie können ruhig ungläubig schauen.

Ich schaue interessiert. Aber diese Schuld, die der Mann auf sich lädt, indem er seine Ehefrau nach 38 Jahren Ehe verlässt: Kann die Liebe diese Schuld aufwiegen?

Das ist eine sehr richtige Frage. Nein, das kann keine Liebe aufwiegen, er müsste daran eigentlich zugrunde gehen. Aber im Roman bringt sich seine Frau und die von ihm Verehrte am Ende um, er bleibt alleine übrig. Und wenn Sie gestatten, halte ich das für Strafe genug.

Sie haben zu dem Thema in Suizid-Foren im Internet recherchiert. Was lehrten Sie die Todessehnsüchtigen?

Ich war fasziniert! Wie diese Menschen, die ja glauben, nur auf den Selbstmord hin zu leben, wie sie da als Gemeinde miteinander verkehren, und wenn einer oder eine es geschafft hat, trauern.

Ist die Selbsttötung im Alter oder wegen Krankheit die ehrlichere Form des Sterbens? Sie haben einmal gesagt, dass wir im Jahr 2200 auf unseren Umgang mit Suizid so zurückblicken werden wie heute auf das Mittelalter.

Das glaube ich fest! Als ich vor gut zehn Jahren darüber publizierte, kriegte ich gehässige Briefe. Die Leute sind der Selbsttötung gegenüber polemisch. In hundert Jahren wird man sagen: Donnerwetter, was waren das für komische Leute? Sich selbst töten ist ein Menschenrecht, wenn es nicht mehr auszuhalten ist. Das kann einem kein Staat, keine Familie, keine Religion absagen!

Meine Grossmutter wurde 94, die letzten Jahre sagte sie immer wieder, sie wolle sterben. Den Schritt wäre sie aber ­niemals gegangen als gläubige Katholikin.

Meine Mutter auch nie. Sie sind in anderen Denkgewohnheiten aufgewachsen. Das bisschen Freiheit, sich selber umzubringen, ist eine Errungenschaft. Die Schweiz ist ja das Mekka …

... es gibt Sterbetourismus.

Ja, wunderbar, wenn du es nicht mehr selbst schaffst.

Es sei scheusslich, wie unzugänglich der Markt ist, wenn man eine richtige Schlaftablette sucht, ­haben Sie kürzlich gesagt.

Ich habe die richtige noch immer nicht gefunden. Es gab mal eine, die hab ich mit 50 gefunden. Aber die gibt es nicht mehr. Wissen Sie mir eine?

Da muss ich passen. Sie haben mit 50 Todessehnsucht verspürt?

Es gab immer wieder Phasen, da es nicht so lustig war. Aber ich konnte mir das nie leisten, ich durfte nicht eine noch unversorgte Familie zurücklassen.

Hat Ihnen das Verantwortungsbewusstsein der Familie gegenüber Lebensmut gegeben?

Alles, was mit Verantwortung zu tun hat, ist mir lästig. Aber vielleicht ging es mir immer zu gut, um alles hinzuwerfen.

Oder Sie konnten sich mit dem Schreiben aus dem Loch holen.

Ja. Das ist sehr wahr.

Ich durfte kurz vor seinem Tod mit Urs Widmer darüber sprechen …

Urs Widmer ist gestorben? Wann?

Vor bald zwei Jahren.

Das habe ich nicht mitgekriegt. Sagen Sie mir schnell, wie alt ist er geworden?

75.

Das ist ja furchtbar, da hab ich schon den Vater gekannt. Ich bin nur noch von Toten umgeben, alle sterben sie weg. 75? Woran?

Er war länger schon lungenkrank. Aber er wirkte auf mich sehr glücklich, als ich ihn traf. Nach der ­ganzen Beschäftigung mit dem Tod, wie bereit sind Sie?

Du bist mit 80 genauso wenig bereit für das Sterben wie mit 30, du bist genauso unfähig zu sterben wie damals. Das ­Sterben ist die unvorstellbare Sache, mit der du, solange du nicht dran bist, nichts zu tun hast. Es ist nichts so natürlich wie der schreiende Widerspruch zwischen sterben müssen, sterben wollen, leben müssen, leben wollen. Die Aufzeichnungen meiner Romanfigur Theo Schadt ums Altsein sind am Rande des Romanhaften, das sind schon auch sehr jene von Martin Walser. Und da darf es ja sein, dass man an einem Tag nicht mehr leben mag, und am nächsten will man nichts als leben, leben, leben!

Nichts als Leben wollen auch die Tausenden von Flüchtlingen, die hier Schutz suchen. Sie sagten, Sie würden wegschauen, wenn eine syrische Mutter ihr totes Kind in die Kamera hält. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dieser Mutter und vielen anderen Menschen symbolisch die Arme ausgebreitet und gesagt: «Wir schaffen das!»

Ich bin ein grosser Anhänger von Frau Merkel. Sie hat Deutschland zum ersten Mal ­einen Ruhm verschafft, den wir nie hatten! Ich nehme wahr, dass vor allem Menschen aus der früheren DDR fremdenfeindlich sind. Das führe ich auf die DDR-Erziehung zurück. Die westdeutsche Gesellschaft ist nicht von Angst besessen.

Aber ein Teil der Schweizer Gesellschaft ist von dieser Angst erfüllt. Am Sonntag entscheidet sich, ob die Durchsetzungs-Initiative angenommen wird.

Also hier vertraue ich auf die jahrhundertealte Schweiz, da passiert nichts Schlimmes. Die Schweiz ist ein Muster in Mitteleuropa für Kontinuität und Humanität. Es kann aber halt auch mal passieren, dass von uns da etwas überschlägt.

Panische Angst haben viele vor der Überfremdung. Aber fürchten wir den Unbekannten heute eigentlich stärker als früher? Eigentlich wissen wir heute doch mehr über ihn.

Diese Angst kriege ich nur durch die Medien mit, sie ist mir völlig fremd. Was haben wir in dieser Weise nach 1945 schon hinter uns! So gut es die Medien meinen: Ich glaube, dass sie jeden Vorfall der Fremdenfeindlichkeit, der leider passiert, abends im Fernsehen zeigen. Und das verhilft dieser Angst zur Existenz. Aber wir schaffen das, und es wird eine Bereicherung sein. In 20 Jahren wir es von den Menschen, die jetzt gekommen sind, Erkenntnisse, Gedichte und Romane geben, auf die wir nie gekommen wären.

Woher kommt Ihr Optimismus?

Weil ich als Leser weiss, was ­Europa ist. Es gibt eine Gemeinschaft, die ist europäisch. Es ist auch lächerlich, sich Europa ohne die Griechen vorzustellen. Und die Politiker sind dafür verantwortlich, dass dieses Europa, das wir in uns haben, auch eine politische Lebensform gewinnt. Das darf man doch noch verlangen dürfen.

Darf der Sonderfall Schweiz denn noch sein?

Die Schweiz hat immer mit Recht einen eigenen Weg gehabt. Und ob die Schweiz mit Schengen einen anderen Verwaltungsanspruch annimmt, ist egal. Die Schweiz hat immer dazugehört, auch wenn sie sich mit Recht getrennt fühlte. Denn was waren das für Staaten – diese Nationalismen. Ihr habt vier Sprachen: Die Schweiz ist ja schon Europa!

Am Sonntag entscheidet die Schweiz darüber, wie sie künftig mit ihren Ausländern umgehen will.

Letztlich ist alles eine Frage der Sprache. Wer sich in einem bestimmten Jargon äussert, der ist kein Ausländer mehr. Dem kann niemand sagen, du gehörst nicht hierher. Die Sprache zeigt, wohin du gehörst. Sie ist der Ursprung aller Zugehörigkeit.

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Das literarische Schwergewicht

Wasserburg am Bodensee (D) – Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler, Dramatiker und Essayisten der Nachkriegszeit, feierte mit «Ehen in Philippsburg» 1957 seinen ersten literarischen Grosserfolg. Es folgten unter anderem «Ein fliehendes Pferd» (1978) und «Ein liebender Mann» (2008). Der Vater von vier Töchtern und eines unehelichen Sohnes widmet sich meist Antihelden und ist Mitglied der Akademie der Künste in ­Berlin.

Wasserburg am Bodensee (D) – Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler, Dramatiker und Essayisten der Nachkriegszeit, feierte mit «Ehen in Philippsburg» 1957 seinen ersten literarischen Grosserfolg. Es folgten unter anderem «Ein fliehendes Pferd» (1978) und «Ein liebender Mann» (2008). Der Vater von vier Töchtern und eines unehelichen Sohnes widmet sich meist Antihelden und ist Mitglied der Akademie der Künste in ­Berlin.

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