Blick: Was braucht es für ein stressfreies Leben?
Alain Sutter: Vor allem Vertrauen in sich selbst. Dann hat man auch den Mut, den Pfad der Sicherheit zu verlassen und vielleicht sogar Fehler zu begehen. Wer bereit ist, Risiken einzugehen, kann aussergewöhnliche Leistungen erbringen. Aus der eigenen Stärke heraus trifft man oft die besten Entscheide.
Das ist alles?
Wichtig ist auch, dass man nicht mehr in den Krieg zieht gegen andere. Wir messen uns ja konstant mit unseren Mitmenschen. Seit Kindheit wird uns eingetrichtert, dass wir besser sein müssen als die anderen, schlauer, schöner, reicher ... Nicht jeder aber kann der Beste sein. Das Ergebnis aus dieser Ideologie sind enormer Stress sowie psychische und physische Beschwerden.
Sie haben immer wieder polarisiert. Ist Ihnen heute egal, was die Leute von Ihnen denken?
Das hat keine grosse Bedeutung mehr für mich. Ich litt lange Zeit unter den Meinungen, die andere von mir hatten. Schliesslich wollte ich es allen recht machen. Was zur Folge hatte, dass diese innere Zerrissenheit zu Stress führte. Ich bin heute nicht mehr von Erfolg und Prestige abhängig. Es geht mir nicht mehr darum, das Spiel zu gewinnen, sondern es zu geniessen. Mir ist die Arbeit beim Training der E-Junioren des FC Baden genauso wichtig wie die Arbeit früher beim Grasshopper Club Zürich. Nicht das Prestige meiner Aufgabe ist mir wichtig, sondern der Inhalt. Wer so denkt und handelt, lebt entspannter und besser.
Sie wollen die Leistungsgesellschaft abschaffen?
Nein, es geht um die Erfolgsgesellschaft. Erfolg wird heute über alles gesetzt. Ich bin überzeugt: Wer ohne Stress lebt und Freude an seiner Sache hat, gibt auch so alles und ist erfolgreich. Wer hingegen zu viel Stress hat, ist blockiert und geht schlimmstenfalls zugrunde.
Sie erwähnen im Buch Vorzeigemanager Carsten Schloter...
Ich schreibe aber auch von anderen erfolgreichen Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sich das Leben zu nehmen. Es gibt immer mehr Menschen, die dem Druck nicht mehr standhalten. Mir geht es im Buch aber nicht darum, den Erfolg zu verteufeln, sondern vielmehr aufzuzeigen, wie wir auf die effizienteste und natürlichste Art erfolgreich sein können.
Konkret, bitte.
Wir können in unserer Gesellschaft nicht länger den Schraubstock ansetzen. Die Menschen können nicht noch mehr ausgepresst werden. Man kann sie zwar immer noch mehr unter Druck setzen, aber da kommt nicht mehr Output heraus. Wir bringen einzig die schon übermässig strapazierten Gesundheitskosten zum Explodieren.
Sie mussten selbst erfahren, was zu viel Stress auslösen kann.
In meiner Zeit bei Bayern München habe ich erlebt, wie es ist, wenn man mit Erfolgsdruck nicht konstruktiv umgehen kann. Meine Zweifel und Unsicherheiten schlugen sich auf die Leistung nieder. Ich spielte schlechter. Das hat mich wiederum noch mehr unter Druck gesetzt. Ein Teufelskreis.
Wie wichtig war in jener Zeit Ihre Frau Melanie?
Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben. Eine intakte Beziehung ist aber kein Garant fürs Glücklichsein. Wäre ich nach meinem Karrieren-Ende mit Drogen abgestürzt, könnte ich auch nicht Melanie verantwortlich machen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.
Was ist das Geheimnis Ihrer Beziehung mit Melanie?
Wir lassen uns absolute Freiheit, haben zugleich das absolute Vertrauen. Keiner hat Ansprüche an den anderen. Keiner will den anderen verändern. Wir akzeptieren einander genauso, wie wir sind. Es ist eine Beziehung in vollkommener Freiwilligkeit. Und das ist für mich die Voraussetzung für alles, was funktioniert.
Haben Sie noch Zwänge?
Wir alle brauchen ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, aber das zu erarbeiten, erachte ich nicht mehr als Zwang. Heute mache ich alles mit vollster Zufriedenheit. Mein Leben ist kein Kampf mehr. Und deshalb bin ich immer öfter stressfrei glücklich.
Haben Sie Träume?
Ich habe Ideen, die ich verwirklichen möchte. Ich hätte gerne eine Finca in Mallorca mit viel Land, wo «Problemkinder» ein Time-out nehmen könnten. Um dann eine Studie zu machen, wie sie sich entwickeln, wenn sie sich in der Natur und ohne Zwänge frei entfalten können. Sie müssten ihr Essen selbst anpflanzen, auch selbst zubereiten. Ich bin überzeugt, den Kindern würde es schnell besser gehen.
Sie bedanken sich im Buch bei Ihrer fünf Jahre jüngeren, behinderten Schwester.
Meine Schwester ist seit ihrer Geburt schwerstbehindert. Meine Eltern haben sich viele Jahre hinterfragt, was sie falsch gemacht haben könnten. Als ihnen bewusst wurde, dass meine Schwester für sie und unsere ganze Familie keine Strafe, sondern eine Chance ist, um zu wachsen, wurde ihr Leben leichter und fröhlicher. Ich danke Daria, dass sie diesen beschwerlichen Weg auf sich genommen hat, um für uns eine grossartige Lehrerin zu sein. Der Himmel wird sie dafür feiern, wenn sie eines Tages nach Hause zurückkehrt.