Nadine Strittmatter über Models, Mode und wilde Zeiten
«Jede Party muss ein Ende haben»

Als Model und Designerin muss man auf der Höhe der Zeit sein. Nadine Strittmatter (38) war es immer. Ob früher, «als die Partys viel besser waren als heute», oder jetzt in diesen «unglaublich spannenden» Zeiten, wie sie im grossen Blick-Interview sagt.
Publiziert: 01.12.2022 um 20:37 Uhr
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Aktualisiert: 02.12.2022 um 12:23 Uhr
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Nadine Strittmatter (38) prangte schon auf allen Modemagazinen dieser Welt. Zugleich ist die Aargauer Designerin scheu, still und nachdenklich.
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Das markante Gesicht von Nadine Strittmatter (38) hat schon auf allen Modemagazinen dieser Welt geprangt. Zugleich ist die Aargauer Designerin scheu, still und nachdenklich. Die Zeiten waren nie spannender als heute, findet sie im grossen Gespräch. Aber die Partys waren in den 2000er-Jahren besser. Und Karl Lagerfeld fehlt.

Blick: Frau Strittmatter, zuerst die Gretchenfrage: Welches Verhältnis haben Sie zu Medien?
Nadine Strittmatter: Ein entspanntes. Das Blitzgewitter klickender Kameras war zwar nie mein Ding. Doch bin ich ja nicht mehr Teil der Show. Ich kann reden, aber ich muss nicht. Das ist eine komfortable Situation, zumal für jemanden wie mich, der gerne zurückgezogen lebt.

Dennoch reden wir heute zusammen.
Weil ich will. Ich bin so neugierig wie scheu.

Der Model-Beruf war für Sie ein Graus?
Oh nein, gar nicht. Aber das ganze mediale Spektakel drum herum – das habe ich einfach mitgemacht. So professionell wie möglich, aber ohne besondere Ambitionen.

Ist das Starsein-Wollen denn nicht die Essenz des Modelberufs?
Überhaupt nicht. Es geht um Stil, um Mode, um Ästhetik, um ein wunderbares Resultat oft in der Fotografie oder beim Kleidermachen. Man hat mit unglaublich interessanten und kreativen Leuten zu tun. Das hat mich angezogen – nicht der Rummel.

Was wollen denn die Medien von einem Model?
Gute Frage. Früher ging es mehr um Kreativität, um interessante Persönlichkeiten. Nun ist es immer mehr eine Art moderner Kuhhandel. Das Modelabel erwartet maximale mediale Präsenz, die Medien wollen ein Maximum an Aufmerksamkeit, und das heisst: an Persönlichem, Privatem, Intimem. Das Model sitzt dazwischen. Der Kuhhandel ist eine ständige Gratwanderung für alle Seiten.

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«Ich fühlte mich getragen, zeitlos, frei.»
Nadine Strittmatter
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Lesen Sie Zeitung?
Fürs Leben gern. Ich lese alle möglichen Zeitungen, am liebsten das «T Magazine» der «New York Times» und den «Weekend Life & Arts»-Teil der «Financial Times».

Wie halten Sie es mit Schweizer Titeln?
Wir reden offen, oder?

Absolut. Auch wenn danach die halbe Welt mitliest.
Schweizer Zeitungen sind natürlich okay, aber das reicht mir nicht. Ich finde die Kultur- und Lifestyle-Teile mittelmässig und nicht unbedingt einfallsreich. Sie bringen oftmals mit ein paar Tagen Verspätung bloss das, worüber die internationale Presse bereits berichtet hat. Das finde ich schade. Deshalb konsumiere ich sie weniger intensiv als auch schon.

Warum sind Sie als Celebrity auf Social Media kaum aktiv?
Ehrliche Antwort: Ich bin zwar sehr neugierig, aber ich muss ja mich selber nicht jeden Tag der ganzen Welt zeigen. Dafür bin ich zu alt. Auf Instagram poste ich immerhin ab und an Bilder für meine Freunde, damit sie wissen, was ich gerade so treibe. That’s it.

Alles eine Altersfrage – wirklich?
Vor allem eine Frage der Einstellung. Und eine Charaktersache. Es gab schon früher die Redner, die auf den Town Squares Menschengruppen in ihren Bann zogen. Heute posaunen sie ihre Botschaften auf den digitalen Kanälen in die Welt hinaus – schön für sie. Und es gibt die anderen, die eher zum stillen Wesen tendieren, so wie ich. Auch okay.

Viele Junge – jedenfalls jene, die in den Medien stattfinden – leiden an Zukunftsangst. Die Gegenbefindlichkeit ist der Vergangenheitsrausch, die Nostalgie. Haben Sie zuweilen nostalgische Anwandlungen, wenn Sie an die glamourösen 2000er-Jahre zurückdenken?
Ich gestehe, es geht mir nicht um Glamour – aber manchmal träume ich von der Vergangenheit. Ich bin mit Pferden aufgewachsen, ging regelmässig reiten. Die sorglose Zeit: Das war für mich eine echte Zeit einer tief empfundenen Naturverbundenheit. Ich fühlte mich wie aufgehoben, getragen, zeitlos, frei. Das hat mich sicher auch für das Leben geprägt.

Welches Verhältnis haben Sie zur rasenden Gegenwart?
Es ist spannend zu sehen, wie ein Cézanne-Gemälde von künstlicher Intelligenz heute neu interpretiert wird und sich somit die verschiedenen Epochen gegenseitig befruchten. Was für ein Privileg, in dieser Zeit zu leben – unglaublich spannend. Ungeahnte Möglichkeiten, alternative Welten, virtuelle Wirklichkeiten, alles wie ein Traum. Denn ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass wir verwöhnte Menschen wirklich zurück zur Natur wollen – das wäre ein hartes Leben, das wir gar nicht mehr aushielten.

Die frühen 2000er-Jahre waren hedonistisch, unbeschwert, schräg. Eine tolle Zeit, trotz allem?
Sagen wir es so: Die Partys waren damals viel besser als heute, keine Frage.

Warum?
Diese Jahre fühlten sich an wie das Ende der Geschichte – eine endlos coole Zeit ohne Problembewusstsein. Wir dachten kaum über die Konsequenzen unseres Tuns nach, wir haben einfach gefühlt, gefeiert, gelebt. Es waren da auch keine Journalisten, die uns auf Schritt und Tritt folgten. Es war eine total andere Welt. Aber jede Party muss ein Ende haben. Auch das haben wir damals schon irgendwie gespürt, nur konnten wir es noch nicht fassen.

So abgebrüht?
Eher realistisch. Heute sind die Gesellschaften diverser, alle fordern ihr Recht ein, alle machen ihre Ansprüche geltend, alle schreien lautstark. Das ist alles wunderbar. Mein Freundeskreis war schon immer sehr bunt. Und es gab auch schon früh Designer, die das neue Normal antizipierten.

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«Natürlich war eine Frau auch Objekt des Begehrens. Das ist ja okay, sofern es eben nicht nur das ist.»
Nadine Strittmatter
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Wen zum Beispiel?
Jean-Paul Gaultier. Der Mann hat bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren Transvestiten in seine Shows integriert. Seine Shows gehörten zu den besten. Auch Thierry Mugler, bei beiden war Diversität ein wichtiger Teil ihres Lebens und ihrer Mode.

Damals war die Vielfalt ungezwungen, heute ist Diversity ein Zwang – ja oder nein?
Vieles ist aufgesetzt, es gibt eine Diversity-Mode, so wie es einen Balenciaga-Look gibt, den plötzlich alle tragen. Nichts gegen Balenciaga an sich, das ist coole, luxuriöse Streetwear. Aber mich ermüdet das Cultural Washing, das heute alle möglichen Firmen betreiben. Echte, gelebte Vielfalt finde ich hingegen super und grossartig. Umso trauriger stimmen mich Geschichten von Leuten, die auch heute noch wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Körperform oder ihrer Sexualität ausgeschlossen oder angegriffen werden. So was verstehe ich nicht.

Höre ich eine leise Kulturkritik an unserer inszenierten Gegenwart heraus?
Wenn ich zugespitzt formulieren müsste, würde ich sagen: Vieles ist heute für die Bühne, vieles findet auf der Wahrnehmungsebene statt. Das ist auch nicht erstaunlich. Denn alles wird heute gelikt, geteilt, gefilmt, rezipiert. Da will man halt gut dastehen. Man muss wohl auch da eine eigene Haltung entwickeln und sich ernsthaft fragen, was einem wirklich wichtig ist.

Früher agierte man hemmungsloser. War das Mode-Business damals in den 2000ern, als Sie auf dem Laufsteg defilierten, eine sexistische Branche?
Weibliche Mode war wahnsinnig wichtig für die Gesellschaft. Natürlich war der männliche Blick immer dabei – eine Frau zuweilen auch Objekt des Begehrens. Das ist ja okay, sofern es eben nicht nur das ist. Ich kenne das, ich war Model für Victoria's Secret. Die Models waren die Stars, die Fotografen haben uns als solche Objekte inszeniert. Damals war das völlig normal. Im Rückblick fühlt sich das jetzt, ehrlich gesagt, etwas zweischneidig an.

Sie bedauern also Ihre frühen Auftritte?
Auf keinen Fall. Es war ja mein Beruf. Und es war eine andere Zeit – ebenso ambivalent wie die gegenwärtige, nur eben anders ambivalent.

Was lief hinter der Bühne?
Ich kann nur für mich sprechen: Ich wurde nie sexuell belästigt. Ich habe mich auch nie unwohl gefühlt. Meine Agenten haben mich geschützt.

Die Zeit der grossen Models ist vorbei. Richtig?
Der Starkult der Models ist vorbei. Dafür gibt es beispielsweise Influencer – ein total anderer Beruf. Aber die echten Fashion-Models sind weiterhin ein Teil der ganzen Modekultur, das waren sie schon immer!

Ist die Zeit der grossen Schönheit ebenfalls vorbei?
Nein. Schönheit wird heute anders verstanden. Es sind nicht mehr die reine abstrakte Schönheit, die perfekten Proportionen, das klassische Gesicht, die ideale Hülle. Schönheit hat heute mit Charakter zu tun, sie ist Ausdruck der Persönlichkeit, des Herzens, der Werte. L'attitude, les allures. Sie ist nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis von Selbstpflege. Und diese neue Schönheit, die andere viel stärker berührt, blüht erst richtig auf!

2003 kam es an einer Dior-Show von John Galliano zu einer denkwürdigen, vielleicht auch symbolträchtigen Szene. Sie defilierten, und als aus dem Publikum eine Tieraktivistin auf den Laufsteg sprang und ein Schild mit den Worten «Fur Shame Peta» in die Kamera hielt, haben Sie die bewegte junge Frau weggeschubst. Ein bewusster Entscheid?
Hey – ich bin auf 30 Zentimeter hohen High Heels, die Lichter blenden mich, es springt jemand vor mich hin, ich wollte vor allem nicht hinfallen und mir den Knöchel brechen! Ich habe gar nicht gesehen, wer da reinkommt, und schon gar nicht, dass es eine Tier-Aktivistin war. Ich trug in der Show keinen Pelz, wie ich auch privat keinen trage, und war damals auch Vegetarierin.

Wie stehen Sie zu Tier- oder Umweltaktivismus?
Ich habe nichts dagegen.

Neuerdings kleben sich Menschen auf die Strasse, um den Verkehr zu blockieren. Sie warnen vor der Klimakatastrophe und nennen sich «Letzte Generation».
Das ist schon ein Thema, finde ich.

Der Klimawandel oder der Weltuntergang?
Wir leben in einem fragilen Ökosystem mit Rückkoppelungen und vielen Kipp-Punkten. Da ist höchste Behutsamkeit angesagt. Natürlich sind solche Blockadeaktionen nicht der Weg, um das Problem zu lösen. Aber es ist ja unbestritten, dass wir an einem nachhaltigen Wirtschaften arbeiten müssen, wenn die Menschheit noch ein paar Jahrhunderte auf dem Planeten Erde leben soll.

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«Am meisten liebe ich die Schweiz, wenn ich nicht in der Schweiz bin.»
Nadine Strittmatter
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Leben Sie selbst sehr umweltbewusst?
Erwischt! Ich bin auch eine Komplizin des wachsenden Energieverbrauchs. Als Jetsetterin würde ich mich definitiv nicht bezeichnen, aber ich benutze das Flugzeug, um grössere Distanzen zu überwinden.

Es gibt drei Wege für die Gesellschaft, um ökologischer zu leben: Verzicht, Verbot, technische Innovation.
Zurück zur Steinzeit ist keine Lösung. Eine neue Verbotsgesellschaft natürlich auch nicht. Und technische Innovation, also letztlich Kreativität des menschlichen Geistes, hört sich zwar gut an, aber es klingt zugleich nach dem Prinzip Hoffnung.

Was wäre Ihr Königsweg?
Ich kenne keinen. Unsere Gesellschaft steckt voller Widersprüche. Auch in der Modebranche gibt es längst die ökologischen Standards, aber gleichzeitig werden Unmengen von Kleidern um den Globus verfrachtet. Das macht keinen Sinn. Ich versuche, alles so gut wie möglich zu machen, im Beruf wie im normalen Leben. Eben habe ich eine Kleiderlinie entworfen, die nur aus nachhaltigen Materialien besteht. Dennoch mache ich mir natürlich darüber Gedanken. Was lässt Sie denn ruhig schlafen?

Leben ist Problemlösen, das zeigt unsere Kultur- und Technikgeschichte. Eines Tages werden wir womöglich im grossen Stil das CO2 aus der Erdatmosphäre ziehen, wir werden die Kernfusion entwickeln, wir werden Techniken erfinden, von denen wir zum heutigen Zeitpunkt noch nichts ahnen.
Alles wird gut? Hoffen wir, dass Sie richtigliegen. Karl Lagerfeld war so ein Optimist wie Sie. Er sagte immer: Schau nach vorne!

Karl Lagerfeld war Ihr grosser Mentor. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Die fruchtbarste Zeit war 2014 bis 2016 – da haben wir wirklich inhouse intensiv zwei Jahre lang zusammengearbeitet. Grossartig.

Was haben Sie von ihm gelernt?
Arbeite immer am nächsten. Fokussiere darauf. Finde so deinen Flow. Nutze die Kultur.

Lagerfeld war ein unangepasster Geist. Er war Anti-Zeitgeist. Ein paar der besten Quotes der letzten Jahre stammen von ihm.
Halt! Karl war der Zeitgeist, einfach mit ein paar Jahrzehnten Vorsprung. Schauen Sie doch die Modeschauen an. Alles, was jetzt chic ist, hat er vor 20 Jahren gemacht. Er las alles, er kannte alles, er wusste, wer was mit wem. Er nahm manchmal an vier verschiedenen Partys jeden Abend teil, stets gepudert und perfekt gestylt.

Erster Satz: «Ich hasse das Wort ‹billig›. Menschen sind billig, Bekleidung ist dagegen teuer oder preiswert.»
Man darf das nicht falsch verstehen – Karl war ein Menschenfreund.

«Man muss Geld zum Fenster rauswerfen, damit es zur Türe wieder reinkommt.»
Stimmt. Man muss immer investieren, damit es weitergeht. Und logischerweise hat er dies auch gelebt. Karl war ein unglaublich grosszügiger Mensch in jeder Hinsicht – und das Leben hat es ihm vergolten. Erfolg, auch finanzieller Art, ist kein Selbstzweck. Erfolg stellt sich ein, wenn anderes stimmt.

«Man lernt nur aus seinen Fehlern. Erfolg hat noch keinem geholfen.»
Karl hat brutal hart gearbeitet. Geschlafen hat er vier Stunden. Er war ein disziplinierter Lebemann.

«Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.»
Lustig. Treffend. Aber nicht ganz ernst gemeint – manche in unserem Team sind während der Arbeit in Jogginghosen herumgerannt.

«Scham ist eine Frage der Selbstachtung.»
Karl arbeitete am perfekten Auftritt, an seiner inneren Statue. Das ist ihm, finde ich, nicht schlecht gelungen.

Warum leben Sie weiterhin in Paris?
Es ist für mich unglaublich kreativ, nur schon hier zu sein und zu arbeiten, in allen Bereichen. Als Designer brauche ich diese ganzen Ideen, die Kultur, die Kunst, diese Welt.

Haben Sie kein Heimweh?
Ich habe ständig Heimweh. Ich liebe meine Heimat, die Schweiz. Aber am meisten liebe ich sie, wenn ich nicht in der Schweiz bin.

Echt?
Ja. Zu viel Schweiz bekommt mir nicht gut, dann sehne ich mich gleich wieder nach Paris. In Paris zu leben und von der Schweiz zu träumen – ich denke, das ist für mich der Idealzustand.

Wann erscheint Ihr erster Roman?
Wie kommen Sie denn darauf?

Sie haben schon früh geschrieben.
Stimmt. Ich habe zurzeit ein wunderbares Projekt, ich fotografiere seit einiger Zeit alle Pferde, die mir in die Finger kommen, von Kunstwerken über Tassen mit Pferdemotiven bis hin zu echten Pferden in der Prärie. Und dazu schreibe ich frei erfundene Geschichten. Ich glaube, das ist sehr spannend.

Interviewer René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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