BLICK: «Jagdzeit» über den Selbstmord eines Finanzchefs in einem grossen Schweizer Wirtschaftsunternehmen ist eine düstere, schwere Geschichte. Wie haben Sie diesen Stoff aufgespürt? Oder hat er Sie eher gefunden?
Simone Boss: Der Stoff fand mich zusammen mit den Produzenten Michael Steiger und Anita Wasser nach dem Suizid von Swisscom-CEO Carsten Schloter 2013. Ich wohne in Zürich neben einem Verwaltungsgebäude der Swisscom und sah ihn jeweils in seinem schicken Mantel vorbeigehen und ertappte mich beim Gedanken: Vielleicht hättest du damals doch Wirtschaft studieren sollen. Dann wärst du jetzt auch reich und hättest ein ähnlich feines Mäntelchen. Warum verdiene ich eigentlich nicht so viel? Schliesslich habe ich als Regisseurin auch eine Art Führungsposition inne. Ich spürte ehrlich gesagt eine Art Sozialneid. Und dann nahm sich Schloter das Leben. Und ich brachte sein erfolgreiches Erscheinungsbild, seine perfekte mediale Oberfläche nicht mit diesem Ende zusammen. Kurz darauf passierte die Wauthier-Ackermann-Geschichte, welche die Schweizer Wirtschaftswelt erschütterte. Und uns fiel in der Diskussion auf: Bei diesen Suizid-Fällen im Wirtschafts-Milieu verspürte kaum jemand Mitgefühl. Er hat doch Millionen auf dem Konto gehabt, wieso ist er nicht einfach ausgestiegen?» Das war die übliche Reaktion. Das Gros der Bevölkerung reagierte eher empathielos. Doch wenn die Umgangskultur in Führungsetagen aus dem Lot gerät, sind Druck, mangelnde Wertschätzung, Demütigung und Stress in allen sozialen Schichten anzutreffen. Egal in welchem Arbeitsumfeld wissen Angestellte oder Vorgesetzte dann nicht mehr weiter und sehen keinen Ausweg mehr. Bloss gelangen diese Geschichten weniger an die Öffentlichkeit als dieselbe Mechanik bei Top-Managern.
Im Vorspann heisst es, der Film sei nach wahren Begebenheiten entstanden. Gab es keine rechtlichen Schwierigkeiten oder Probleme mit Angehörigen?
Um den Film realisieren zu können, brauchten wir künstlerischen Spielraum und Freiheit in der fiktionalen Entwicklung. Simone Schmid, die hauptverantwortliche Drehbuchautorin, hat extrem viel recherchiert und die Geschichte aus verschiedenen Biografien verdichtet. Aber wir möchten ganz klar festhalten: Obwohl der Film von wahren Begebenheiten aus der Wirtschaftswelt inspiriert ist, ist das Privatleben, das wir unseren Figuren gegeben haben, fiktiv. Ich sprach zur Vorbereitung mit diversen CFOs von verschiedenen Firmen, grossen und kleinen, konnte Agenden einsehen und Tagesabläufe studieren. Alle Referenzfiguren waren extrem zugänglich und haben offen gesprochen. Wir zeigten den Film auch der Witwe von Martin Senn, dem ehemaligen CEO der Zurich Versicherungen, welcher 2016 den Freitod wählte. Das war ein sehr berührender Moment.
Sie siedeln den Film in der Autobranche an. Ein Zufall?
Wir wollten keinen Film in der Hochfinanz in gläsernen Türmen drehen, sondern die Geschichte näher an die Schweizer Industrie ziehen. Die Autozuliefererbranche ist ein wichtiger Teil unserer Wirtschaft. Viele frühere Maschinenbau-Unternehmen haben mittlerweile diversifiziert und liefern der Autobranche zu. Sie sind abhängig von den grossen Automobilherstellern wie VW oder Mercedes, haben ihre Produktionsstätten im Ausland und das Headquarter hier in der Schweiz. So eine Firma wollten wir mit der fiktiven Walser AG abbilden. Wir wollten einen Schweizer Wirtschaftsfilm machen, ein Stück Wirtschaftsgeschichte aufrollen. Wichtig war mir: Jedes kleinste Detail ist recherchiert, jeder Dialog gegengelesen. Und die Erfindung, die im Film eine wichtige Rolle spielt, wurde von einem Professor der ETH vorgeschlagen.
Mit Ulrich Tukur und Stefan Kurt haben Sie eine Top-Besetzung für die Hauptfiguren. Wie haben Sie die Schauspieler ausgewählt?
Wir hatten zuerst eine Fassung, die einen jüngeren Alexander Maier vorsah. Aber dann merkten wir auf dem Weg der Drehbuchentwicklung, dass Maier älter sein muss, weniger Zukunft vor sich haben sollte. Dadurch war Stefan Kurt gesetzt. Ich kannte ihn als Schauspieler schon lange, hatte aber bisher nie das Vergnügen, mit ihm zu arbeiten. Und Brockmann war für mich von Anfang an mit Ulrich Tukur besetzt. Er hat diesen unglaublichen Charme und eine grosse Attraktivität. Man muss gleichzeitig zeigen können, warum viele Menschen Figuren wie Brockmann verfallen und auf den Leim gehen.
Ist es nicht etwas klischeehaft, dass der Böse gerade ein Deutscher ist?
Grundsätzlich ist es eine Realität und kein Klischee, dass sehr viele CEOs in Schweizer Firmen Deutsche sind, aber Umgangston und Führungsstil haben nichts mit Nationalität zu tun. CFOs kommen eher aus der Firmentradition und bleiben in der Regel lange auf ihren Posten. CEOs wechseln im Schnitt alle zwei, drei Jahre. Das kann eine ungeheure Dynamik auslösen. Wir haben im Film eine solche Dynamik verdichtet und es ist mir ein Anliegen zu betonen, dass «Jagdzeit» keine Geschichte über einen einzelnen Fall oder eine bestimmte Person erzählt.
Maier orientiert sein Handeln nach dem Hagakure-Buch, welches ihm Brockmann geschenkt hat, der sogenannten Samurai-Bibel, auf die sich viele Manager beziehen. Haben Sie selber auch ein Werk, nach welchem Sie Ihre Berufsleben ausrichten?
(lacht) Nein, ich mache seit Jahren eine Psychotherapie, das hilft mir bestens, alles einigermassen einzuordnen. Aber das Buch ist schon ein Phänomen. Es ist ein sehr alter japanischer Text, ein Handbuch für Krieger, der Ratschläge in Kriegskunst und Kriegslist gibt. Und es beinhaltet auch das schreckliche Ende als logische Konsequenz: Wenn der Fürst im Unrecht ist, kann man mit dem Mittel des Suizids dagegen protestieren.
Wie sind Sie auf das Element der Jagd und des Schiessens gekommen?
Wir suchten lange Zeit über ein Hobby für Maier. Simone Schmid hatte dann die Idee mit dem Schiesskino, die sich stimmig mit dem Rest der Geschichte verband. Daraus entstand die private Schiessanlage im Keller. Auch das übrigens etwas, was es in der Realität gibt. Alexander Meier braucht gar nicht mehr rauszugehen, sondern er holt die Natur zu sich nach Hause.
Brockmann jagt dagegen lieber draussen. Was fasziniert mächtige Männer an der Jagd?
Leben und Tod, das Blut, das Dramatische am eigenen Leib zu erleben, das erregt und hält manche Menschen lebendig. Auf der Lauer zu liegen und über Tod und Leben zu entscheiden, kann aufregend und prickelnd sein.
Sie arbeiten höchst vielseitig und überraschen immer wieder mit Ihrer Themenwahl. Sich selber ebenso?
Für mich gehört das zu meiner Persönlichkeit und ist also normal. Ich brauche immer lange, um auf ein Thema aufzuspringen. Aber dann verbeisse ich mich regelrecht darin. Wir wussten schnell: Dieses Thema muss auf den Tisch. Die heutige Arbeitswelt, die grossen Pensen, Neid, Überforderung, Machtspiele, Zukunftsängste. Ich wollte einen Film für all jene machen, die zurückbleiben. Für alle, die merken, da läuft etwas schief. Die aber nicht reagieren und lieber schweigen, weil sie froh sind, wenn es andere trifft und nicht sie selber.
Sind Sie das Gegenteil einer Genre-Regisseurin?
Ich suche immer die Emotion. Und ich hoffe, ich habe auch diesmal einen emotionalen Film gemacht, der einen mitnimmt. Das strebe ich in einem Liebesfilm oder in einer Komödie an, und es war auch hier das Ziel. Diesmal vielleicht noch etwas stärker: Dieser Film soll erschüttern.
Kann man sagen, dass dies Ihr bisher ernsthaftester Film ist?
Das kann sein. Es ist zumindest ein heftiger Film, ein Drama. Wir haben lange intern diskutiert: Gibt es so etwas wie ein Lichtlein am Horizont, eine Botschaft? Ja, die gibt es: Wir müssen besser aufeinander aufpassen.