Lotti Latrous (60) ist trotz schwerer Lungentuberkulose zurück in Afrika
Woher nehmen Sie bloss die Kraft zu helfen?

Die Entwicklungshelferin über ihre Krankheit, ihre Schützlinge und wie es nach ihrer Rückkehr weitergeht.
Publiziert: 11.03.2014 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 16:29 Uhr
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Unermüdlich Entwicklungshelferin Lotti Latrous leitet in der Elfenbeinküste ein Ambulatorium, ein Mütter- und Kinderheim sowie ein Sterbehospiz.
Foto: RDB
Von Tino Büschlen

BLICK: Vor einem Jahr mussten Sie die Elfenbeinküste aus gesundheitlichen Gründen verlassen. Ihr Lungenvolumen betrug 40 Prozent. Nun sind Sie zurück in Ihren Hilfszentren in Abidjan. Wie erlebten Sie die Rückkehr?
Lotti Latrous: Es war ein Heimkommen. Ich fühle mich wie ein Baum, der zu seinen ausgerissenen Wurzeln zurückgekehrt ist. Der Baum musste in der Schweiz ein Jahr gepflegt werden, damit er nicht eingeht. Aber blühen kann er nur in der Elfenbeinküste.

Wie wurden Sie empfangen?
Meine Mitarbeiter und Patienten haben sich extrem gefreut. Wenn man 15 Jahre am selben Ort lebt, wird man zur Mutter des Quartiers. Ich kenne die Geschichte und Vergangenheit dieser Leute. Ihr Leiden, ihre Traurigkeit – aber auch ihre ungebrochene Lebenslust. Nachdem ich immer für sie da war, mussten sich die Leute nun um mich Sorgen machen.

Wie geht es Ihnen heute?
Wirklich blendend. Eine Lungentuberkulose vor fünf Jahren hatte das Organ stark geschädigt. Das hiesige feuchte Klima rief immer wieder Infektionen hervor. Nun habe ich in der Schweiz Atmungstherapien gemacht, mich gut bewegt und die richtigen Medikamente eingenommen. Die Selbsttherapie mit Kortison war auf Dauer keine Lösung. Jetzt kann ich wieder aufatmen.

Nehmen Sie sich nun Auszeiten, um gesund zu bleiben?
Das muss ich sogar. Ich darf nicht so weitermachen wie früher. Die Gesundheit ist unser höchstes Gut. Wenn die weg ist, kann man nichts machen – schon gar nicht anderen helfen. Der momentane Stand ist, dass ich alle zwei Monate für drei Wochen in der Elfenbeinküste sein kann.

Wo besteht der grösste Handlungsbedarf auf Ihren Kranken­stationen?
Aids sind wir am Beherrschen. In der ganzen Elfenbeinküste ist die HIV-Therapie durch den Staat subventioniert, sprich gratis. Was jetzt auf uns zukommt, ist der Krebs. Krebs hat Aids als grösste humanitäre Katastrophe abgelöst. Wir führen einen Weltkrieg gegen den Krebs.

Beschreiben Sie das, bitte.
Das Schlimme ist, dass wir keine Mittel für Medikamente haben. Gestern hatte ich in meinem Büro eine Frau mit Brustkrebs. Dreiviertel der Brust waren verfault und hingen am Körper. Sie bräuchte sechs Millionen CFA-Francs, 11 000 Franken, um die Medikamente der Chemotherapie finanzieren zu können. Dann müsste sie nach Ghana zur Bestrahlung gehen, weil es in der Elfenbeinküste keinen Bestrahlungsapparat gibt.

Was haben Sie der Frau gesagt?
Ich sagte: «Mami, ich kann nur noch weinen mit dir.» Das Mindeste, was wir für sie machen können, ist die Brust amputieren. Es bricht mir das Herz. Ich kenne diese Frau seit Jahren. Sie lebt im Slum Adjouffou, wo meine Stationen stehen. Ich weiss, dass sie kaum genug Geld für einen Teller Reis pro Tag hat. Wie sollte sie die Finanzen aufbringen, um ihr Leben zu retten?

Woher nehmen Sie bloss die Kraft, zu helfen?
Man sagt mir immer, ich hätte eine Begabung. Ein Geschenk, das mir mitgegeben wurde. Auch wenn ich meine Mutter im Altersheim besuche, nehme ich alle Menschen dort in die Arme. Ein jeder Mensch hat das Recht auf Zärtlichkeit und Nächstenliebe. Ich kann diese Zärtlichkeit geben. Das ist für mich total natürlich.

Woher haben Sie diese Gabe?
Vielleicht ist es ein Geschenk, vielleicht Berufung. Ganz sicher hat der Herr da oben bestimmt, was ich tue. Ich kann nicht anders. Ich sehe so viele Menschen sterben und sage immer: Die haben das alle nicht verdient. Kinder, junge Frauen, starke Männer – und plötzlich ist ihre Zukunft Vergangenheit. Ein junges Leben erloschen.

Trotzdem haben Sie Ihr Lachen nicht verloren.
Mein Mann sagt: «Ich habe dich noch nie so viel lachen sehen wie im tiefsten Dreck und grössten Elend hier in der Elfenbeinküste.» Das Sterbehospiz ist ­wieder voll. Jedes Bett besetzt. Ich sehe täglich Menschen sterben. Sieht man dieses Leid, kann man nicht nur dort sein und weinen und stöhnen und klagen, wie schlimm es ist.

Wie heitern Sie die Leidenden auf?
Afrikaner haben sehr gerne Spass. Ein frecher Spruch zaubert ihnen ein Lächeln auf die Lippen. Wir beten mit­einander, lachen zusammen. Den Körper kann man pflegen, doch auch die Seele braucht Futter. ­Einem Menschen zu sagen, dass man ihn gern hat und er wichtig ist, kann unbezahlbar sein.

Wie sieht Ihr Alltag in der Elfenbeinküste aus?
Heute habe ich ein Kind gerettet, einer Mutter die Hand gehalten beim Sterben, einer blinden Frau geholfen und mit meinen Kindern und Enkeln in der Schweiz geskypt. Das war ein ganz normaler Tag.

Ihre Hilfszentren in Abidjan müssen bald der Erweiterung des Flughafens weichen. Wie lange können Sie noch bleiben?
Man weiss nicht genau, wann alles abgerissen wird. Es sind nicht nur meine Stationen betroffen, sondern der ganze Slum. Das betrifft 150 000 Menschen. Diese Leute müssen alle wieder irgendwo unterkommen. Das macht mir grosse Sorgen.

Wie weit sind Sie bei der Suche nach einem neuen Standort?
Ich war die letzten Tage auf den Ministerien. Sie haben mir gesagt, dass ich jetzt anfangen müsse, Land zu suchen und zu bauen, denn bald werden die Bodenpreise in die Höhe schiessen. 20 Kilometer von hier entfernt gibt es ein Stück Land, welches mein Mann und ich uns nun genauer anschauen werden.

Ihre Pläne?
Sobald wir die Papiere für das Grundstück haben, beginnen wir zu bauen. Mir schwebt ein kleiner Weiler mit Dorfplatz, ­einer Kirche, einer Schule und einer Moschee vor. Hier, beim alten Standort, sind wir ja eingeklemmt im Slum. Wenn ich jetzt 3000 bis 5000 Quadratmeter Land kaufen kann, haben wir danach mehr Platz. Dann wäre der Umzug eine Chance.

Ihre Wünsche für die Zukunft?
Weniger Krieg, weniger Armut. Weniger Neid und Hass. Weniger Leiden, weniger Arroganz und Irrsinn. Persönlich wünsche ich mir, dass meine Familie gesund bleibt, unsere Kinder glücklich sind und dass mein Mann und ich noch lange helfen dürfen. Helfen gibt uns den Reichtum, den wir brauchen, um unseren Frieden zu finden.

Worin sehen Sie den Sinn Ihres Lebens?
Teilen, geben, helfen. Teilen macht frei, geben glücklicher als nehmen, und helfen beflügelt die Seele. Alle Menschen sollen gleich und frei von Vorurteilen behandelt werden. Die Nächstenliebe ist für mich der eigentliche Sinn des Lebens.

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