Mit rosa Velo und rosa Rucksack, auf dem «never stop growing», also «hör nie auf zu wachsen» steht, fährt Anna Rosenwasser (33) zum Interview am Zürcher Limmatquai vor. Kein Zweifel: Rosa ist Rosenwassers Lieblingsfarbe und gleichzeitig auch ihr Markenzeichen. Die Zürcherin ist mit ganzem Herzen eine LGBTQ-Aktivistin – und zwar eine der erfolgreichsten im Land. Mit fast 30'000 Instagram-Followern ist sie eine gefragte Influencerin und führt den meistbeachteten Instagram-Account für queeren und feministischen Aktivismus in der Schweiz. Zudem war Rosenwasser Co-Leiterin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und hat mit «Rosa Buch» vor kurzem ihr erstes Buch veröffentlicht.
SonntagsBlick: Frau Rosenwasser, braucht es 2023, in Zeiten der Ehe für alle, überhaupt noch LGBTQ-Aktivismus?
Anna Rosenwasser: Unbedingt! Die Ehe für alle ist noch lange nicht das Ende des Regenbogens. Im europaweiten Vergleich mit 49 Ländern landet die Schweiz auf Platz 19. Das ist der aktualisierte Platz, vorher dümpelte unser Land mehrere Jahre auf Platz 23 herum. Zudem ist die Suizidrate von queeren Menschen in der Schweiz mindestens viermal höher als bei heterosexuellen Menschen – bei trans Menschen sogar noch höher. Queeren Menschen geht es noch lange nicht so gut, wie es ihnen gehen sollte, auch wenn sie jetzt heiraten dürfen – was natürlich ein grosser Fortschritt ist.
Sie führen in Schulen und Firmen zu Gender- und LGBTQ-Themen Workshops durch. Wo ist am meisten Aufklärung nötig?
Ganz klar beim Thema Trans- und Geschlechtsidentität. Die Leute verstehen erst jetzt, dass es trans Menschen gibt. Aber es existieren viele Vorurteile, auch was Nonbinärität anbelangt. Aufklärung ist in diesem Themenbereich dringend nötig.
Sie sind eine der erfolgreichsten LGBTQ-Aktivistinnen des Landes und ein Idol für viele junge Menschen. Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?
Ich glaube, was mich von anderen unterscheidet, ist: Ich bin besonders sichtbar. Viele Aktivistinnen und Aktivisten stehen nicht so gerne in der Öffentlichkeit. Ich schon, da ich auch ein sehr extrovertierter Mensch bin. Natürlich gehört auch eine gute Portion Geltungsdrang dazu. Ich bin eine Person, die gerne Aufmerksamkeit erhält, und ich habe es satt, so zu tun, als wäre das etwas Schlechtes. Aber öffentliche Aufmerksamkeit ist nicht immer nur schön, sondern auch sehr anstrengend.
Sie sprechen auch darüber, wie Sie bewusst Social-Media-Pausen einlegen. Wie reagieren Ihre Follower auf diese Offenheit?
Sehr gut. Wir brauchen alle Pausen und nicht erst, wenn es zu spät ist. Ich habe beispielsweise ein Arbeits- und ein Privathandy. Auf dem privaten habe ich keinen Zugang zu Mails oder Instagram. Das ist mir wichtig. Denn gerade im Aktivismus ist die Gefahr zur Selbstausbeutung sehr gross. Umso wichtiger ist es, sich Inseln für die Selbstfürsorge zu schaffen. Über psychische Gesundheit zu sprechen, ist dringend nötig. Es beschäftigt viele.
Wie schalten Sie am besten ab?
Indem ich allen mitteile, ich müsse jetzt ganz dringend chillen. Dann pflege ich mein Stickeralbum, höre Songs von Taylor Swift und lasse meine Kleider von meinen beiden Büsis ruinieren (lacht).
Mit «Rosa Buch» haben Sie vor kurzem Ihr erstes Buch herausgebracht. Ein Werk, von dem Sie sagen, dass es Ihnen das in Ihrer Jugend gefehlt habe.
Ja, ich hätte genau so ein Buch gebraucht, das mich geduldig an Themen wie Feminismus oder lesbische Liebe herangeführt hätte. Mein Buch ist eine Sammlung von autobiografischen Texten, die zwischen 2018 und 2022 entstanden. Darin geht es um Coming-out, Selbstliebe und um Sex – viel mehr Sex, als ich gedacht hätte (lacht).
Was heisst das?
Bei meiner ersten Lesung war ich in Hochdorf, einer ländlichen Gemeinde im Kanton Luzern. Das Publikum durfte aussuchen, welche Passage ich vorlese – und plötzlich ging es um Lesbensex. Ich las also zum ersten Mal diese ausführlichen Zeilen laut vor und dachte, ich würde hochkant aus Hochdorf hinausgeworfen (lacht). Aber das Gegenteil war der Fall. Alle waren begeistert, und ich verkaufte sämtliche Bücher, die ich dabei hatte.
Wo verorten Sie den Grund für diese Begeisterung?
Wir wachsen alle in einer Gesellschaft auf, in der Sexualität stark penisorientiert ist. Frauen, die Sex mit Frauen haben, sind nicht nur aus gesellschaftlicher, sondern auch aus politischer Sicht spannend, da sie an diesen starren patriarchalen Strukturen rütteln. Dieses Thema zu enttabuisieren, ist politisch sehr wichtig, aber es macht mir auch grossen Spass.
Sie organisieren auch Treffpunkte für junge queere Menschen, damit sie nicht allein an Gay-Partys gehen müssen.
Ja, ich hatte schon immer ein grosses Gemeinschaftsgefühl und setze mich gerne zusammen mit anderen für etwas ein. Mit diesen Treffs mache ich mich zwar selber sehr verletzlich. Aber wenn mir dann ein junger Mensch sagt: «Danke, Anna, mit dir war ich an meiner ersten Gay-Party», bin ich schon sehr gerührt und freue mich, dass ich die Früchte meiner Arbeit direkt ernten kann.
Als erfolgreiche Herzblut-Aktivistin wäre es ein logischer nächster Schritt, in die Politik zu gehen. Interessiert Sie das?
Ich liebäugle derzeit tatsächlich mit einem politischen Amt auf nationaler Ebene. Vorher ziehe ich aber noch mit meinem Buch durch die Schweiz. Es wird also ein spannendes Jahr für mich.
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