Herr Sigg, Sie gelten als weltweit bedeutendster Sammler von chinesischer Kunst und geben diese nun an China zurück. Woher kommt Ihr Durst nach Kunst?
Uli Sigg: Das Interesse für Gegenwartskunst war schon als Student da. Aber gesammelt habe ich zuerst nicht. Ich wollte mir nebst den offiziellen Kontakten noch einen weiteren Zugang zum Verständnis Chinas erarbeiten. Das ging über die Kunst.
Sie konnten in der Zeit als Schindler-Manager doch kaum Künstler besuchen, die ja oft in Opposition zum Regime standen.
Richtig. Das hätte den Erfolg der chinesisch-schweizerischen Firma gefährdet, ebenso wie die Künstler und auch mich selbst. Die Kontakte liefen über Mittelsmänner, welche die Künstler gut kannten. Und die zeigten mir deren Kunst.
Und Sie waren begeistert?
Anfänglich nicht. Ich bewegte mich als Kunstinteressierter immer an vorderster Front der Gegenwartskunst. Ende der 1970er-Jahre lagen die chinesischen Künstler gegenüber Europa noch Jahrzehnte zurück. Das war für mich uninteressant.
Wann änderte sich das?
Als sie nicht mehr Propagandakunst produzieren mussten. Vorher war das ausschliesslich sozialistischer Realismus, hergestellt im Auftrag des Staates. Dann dauerte es noch einige Jahre, bis die Künstler zu einer eigenen Sprache fanden.
Da wurde es für Sie interessant?
Ja. Ich stellte fest, dass diese Kunst niemand sammelte. In meiner Anfangszeit in der Botschaft habe ich dann beschlossen, das Dokument zu schaffen, eine Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst, welche die Transformation des Landes dokumentiert. Und ich beschloss, die Sammlung später in das Land zurückzubringen.
Das ging als Botschafter?
Es herrschte Mitte der 1990er-Jahre bereits ein anderer Freiheitsgrad in China. Ich habe nach der Arbeit in der Botschaft, in meiner Freizeit, chinesische Künstler getroffen.
Denunziert hat Sie niemand?
Probleme gab es nie. Vielleicht deshalb, weil ich einen etwas speziellen Status hatte, seit ich eben das Joint Venture aufgebaut hatte. Ich hätte das sicherlich nicht riskiert, wenn ich einfach ein Diplomat gewesen wäre.
Die Künstler gaben einem Ausländer ihre Oppositionskunst?
Ja. Weil sie mein künstlerisches Interesse spürten und sie wussten, dass ich die Werke eben für dieses Dokument der Transformation wollte.
Was hat Sie an China fasziniert?
Es ist das ganz Andere. Die Chinesen haben auf alles ganz andere Antworten als wir. Sie essen nicht mit Messer und Gabel, sondern mit Stäbchen. Sie schreiben mit ganz Anderen Schriftzeichen. Für mich war das eine Art Forschungsobjekt: Was ist dieses andere?
Haben Sie früh gespürt, was heute jeder weiss: China entwickelt sich wieder zum Zentrum der Welt.
Mir wurde schon 1980 klar, dieses China wird wieder etwas ganz Grosses. Wie genau und was, das konnte allerdings niemand wissen. In der Kunst spürte ich das Gleiche: Das muss und wird wieder Bedeutung bekommen. Heute sehen wir, dass China wohl das Zentrum der Welt im 21. Jahrhundert wird und darin die USA ablösen wird.
Wie sehen das die Chinesen?
1979 sagte mir ein Geschäftspartner: Das ist wie eine Verirrung der Weltgeschichte, dass wir mit unserer jahrtausendealten Kultur nun die fehlende Technologie bei euch einkaufen müssen. In hundert Jahren werde es wieder umgekehrt sein.
Es war ja kein linearer Öffnungsprozess. Es gab im Jahr 1989 diese brutale Unterdrückung der Proteste in der Bevölkerung.
Es war immer ein Kampf zwischen den Reformern und den Hardlinern. Der war ja nie entschieden und entlud sich bei der gewaltsamen Niederschlagung eines Volksaufstands am Platz des Himmlischen Friedens. Es war dann im Westen nicht mehr salonfähig, dort Geschäfte zu machen.
Was bedeutete das für die Künstler?
Künstler wurden in den Untergrund zurückgedrängt.
Was bedeutet das für die Welt?
Es stehen sich zwei Konzepte gegenüber. Auf der einen Seite unsere westliche Lebensart mit Vorstellungen über Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte. China ist dabei, sein eigenes Konzept zu entwickeln. Wir wissen aber noch nicht genau, wie nah dieses dem unsrigen kommen wird. Denkbar ist, dass sie aufgrund ihrer Wirtschaftsmacht einen grossen Teil der Welt kontrollieren – aber wäre das ein Sieg über den Westen?
Jedenfalls kaufen sie derzeit die Welt und deren Rohstoffe auf.
Man muss versuchen zu verstehen, warum das so ist. Wenn Sie 1,4 Milliarden Menschen ernähren, bekleiden und mit Energie versorgen müssen, bedeutet dies zunächst einmal eine grosse Verantwortung. Dies zu gewährleisten, ist die Voraussetzung für die politische Führung, sich an der Macht zu behaupten.
Verliert die westliche Lebensart demgegenüber an Leuchtkraft?
Es geht ja nicht nur um militärische oder wirtschaftliche Macht des sogenannten Staatskapitalismus oder des Westens. Es geht eben auch um das, was ich Softpower nenne. Staaten in Afrika oder Lateinamerika können sagen: China wächst noch immer rasant, Europa stagniert und die USA befinden sich in einer innenpolitischen Blockade. Wer also verheisst eine bessere Zukunft?
Und kulturell?
Da gilt das Gleiche. Die USA haben Hollywood, Fastfood, den amerikanischen Traum. Auch da hält China dagegen. Einfach eine andere Form von Amerika zu werden, ist eine zu kleine Vision für das grosse China. Dabei befindet sich das Land in einem Dilemma: Mao hat die kulturelle Tradition weitgehend vernichtet, und die Machthaber versuchen nun, diese wieder aufleben zu lassen, ohne dass die kommunistische Vergangenheit völlig abgestreift werden kann.
Sie geben nun einen grossen Teil Ihrer Sammlung nach China zurück. Ai Weiwei, der Oppositionskünstler, sagt im Film, er würde kein einziges Kunstwerk an dieses Regime zurückgeben. Haben Sie Verständnis für diese Haltung?
Ich habe Verständnis für seine Meinung als Oppositionskünstler. Aber für meine Sammlung habe ich mir dieses Versprechen gegeben. Das war mit ein Grund, wieso die chinesischen Künstler mir vertraut haben. An dieses Versprechen fühle ich mich gebunden und bin in diesem Punkt eben anderer Meinung als Ai Weiwei.
Was bezwecken Sie damit?
40 Millionen Festlandchinesen besuchen jährlich Hongkong. Wenn sich nur ein Prozentsatz durch die Sammlung mit ihrer zeitgenössischen Kunst auseinandersetzt, ist der Zweck erfüllt. Eine persönliche Anmerkung: Dass dies ein Schweizer ermöglicht hat, ist jenseits aller Ideologien auch etwas wert.
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