Kolumne «Geschichte» von Claude Cueni
Die einen haben Uhren, die andern haben Zeit

Für die neue Kolumne von Claude Cueni sollten Sie sich Zeit nehmen. Denn genau das ist das Thema. Man mag Pünktlichkeit bünzlig finden – aber sie sorgt auch für Produktivität.
Publiziert: 26.01.2018 um 23:38 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:40 Uhr
Besseres Zeitmanagement bedeutet auch höhere Produktivität.
Foto: Keystone
Claude Cueni

«Zeit ist Geld», schrieb Benjamin Franklin 1748 in seinem «Leitfaden für junge Kaufleute». Der Graf von Rumford kritisierte die «unglaubliche Bummelei» in Verwaltung und Produktion und forderte Arbeitszeitkontrollen, denn nur mit einer exakten Zeitmessung könne man planen und Ziele festlegen.

Während man sich in der Landwirtschaft noch nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang richtete, gerieten die Fabrikarbeiter im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter das Diktat der Zeitmessung. Maschinen sollten 60 bis 80 Stunden die Woche «arbeiten». Die Kontrolluhr wurde zum «Herzschlag des Kapitalismus» (Karl Marx), sie gab an den Fliessbändern den Takt an. Die neue Pünktlichkeit wurde zur neuen Tugend. Sie bedeutete mehr Effizienz, höhere Gewinne und schaffte einen entscheidenden Vorteil gegenüber Ländern ohne Zeitdisziplin.

Das ist bis heute so. In einem Vergleich mit 31 Ländern belegt die Schweiz Platz eins. Nirgends laufen die öffentlichen Uhren genauer, nirgends sind die Wartezeiten kürzer. Am Ende der Skala finden sich weniger industrialisierte Länder in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika. Das Schlusslicht ist Mexiko. Dort durchdringt die Langsamkeit das tägliche Leben bis ins Mark. Pünktlichkeit gilt bei privaten Einladungen sogar als unhöflich, weil man damit rechnet, dass der Gast ein bis zwei Stunden «zu spät» kommt.

Ein lockeres Zeitgefühl und die kulturelle Eigenart, alles auf morgen zu verschieben, sind enge Geschwister. In diesen Ländern besteht der Alltag zu einem beträchtlichen (unproduktiven) Teil aus Warten. Warten auf verspätete Busse, Züge, Amtspapiere, warten auf andere Leute. Es versteht sich von selbst, dass langsame Kulturen im Laufe der letzten 200 Jahre abgehängt wurden und scheiterten.

Ein junger nordafrikanischer Migrant beklagte in einer Doku, dass Europa ihn stresse, weil hier alles organisiert sei, nie gehe eine Maschine kaputt, nie könne man Pause machen. Ironischerweise suchen Wirtschaftsmigranten in Europa ein besseres Leben und bringen ausgerechnet jene Kultur der Langsamkeit mit, die (nebst anderen Faktoren) mitverantwortlich ist für das Scheitern ihrer Heimatländer. Die einen haben Uhren, die andern haben Zeit.

Claude Cueni (62) ist ­Schriftsteller und lebt in Basel. Sein neuer Roman «Der Mann, der Glück brachte» erscheint im März. Cueni schreibt alle zwei Wochen im BLICK. 

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