In der SRF-Krimiserie «Der Bestatter» wurde gestern eines der grossen Rätsel der Staffel aufgelöst: Die totgeglaubte Anouk Hefti (Mara Lisa Müller) lebt! Judith Luginbühl (Sabina Schneebeli, 53) gesteht den Ermittlern, das Mädchen als Baby aus dem Kinderwagen geklaut zu haben. Sie zog sie unter dem Namen Céline auf – und zerstörte mit der Tat das Leben der richtigen Eltern.
Wie tickt eine Person, die ein fremdes Baby stiehlt und schliesslich als sein eigenes Kind aufzieht?
Immer wieder berichten Medien über solche Fälle. Anfang Januar sorgte der Fall von Alexis Manigo (18), geboren als Kamiyah Mobley, international für Schlagzeilen: Sie wurde als Baby in einem Spital im US-Bundesstaat Florida von einer Frau entführt und von ihr als ihr eigenes Kind aufgezogen. Gloria Williams (51) muss sich nun wegen Entführung verantworten.
Im August wurde eine 52-jährige Südafrikanerin von einem südafrikanischen Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil sie vor 17 Jahren ein Baby gekidnappt hatte. Die Täterin, die mehrere Fehlgeburten erlitten hatte und sich sehnlichst ein Kind wünschte, hatte die kleine Zephany in der Nacht aus einem Spitalbett gestohlen.
Motivation Brutpflegeinstinkt
Grundsätzlich seien zwei Motivationen für eine solche Tat möglich, erklärt der forensische Psychiater Thomas Knecht. «Extrinsisch nennt man eine Motivation, wenn damit ein äusserliches Ziel, etwa ein Lösegeld, angestrebt wird. Intrinsisch nennt man eine Motivation dann, wenn durch die Handlung nur ein inneres Bedürfnis gestillt wird, hier also der Brutpflegeinstinkt, welcher bei der Frau ein sehr elementares Triebverhalten darstellt.» Dabei gelte es zu bedenken, dass das Brutpflegeverhalten bei der Frau im gleichen Hirnteil lokalisiert sei wie das Kopulationsverhalten beim Mann.
«Eine Frau, welche in dieser Lebensphase sehr frustriert ist, könnte also durchaus auf den Gedanken kommen, ihr Bedürfnis an einem fremden Kind abzureagieren. Dass das nicht häufiger geschieht, dürfte daran liegen, dass Frauen von Grund auf viel weniger kriminell sind und die Aufdeckungswahrscheinlichkeit bei einer solchen Tat doch sehr hoch ist.» In der Schweiz passieren solche Entführungsfälle glücklicherweise kaum.
«Es braucht eine gewisse Skurpel- und Herzlosigkeit»
Warum ist diese Art der Entführung so selten? «Entführungen haben generell mit Machtspielen und Kontrolle zu tun. Es braucht bei dieser Art der Entführung jedoch eine gewisse Skrupel- und Herzlosigkeit, die man sowohl dem Kind als auch der richtigen Mutter zumutet.» Eine Frau, die unbedingt ein Baby grossziehen wolle, fühle allerdings das Gegenteil, denn sie wolle sich ja um ein Kind kümmern. «Dabei kommt die Gewissenlosigkeit in die Quere.»
«Klaue ich ein Kind, muss ich gewissenlos sein»
Genau deshalb blieben solche Entführungen die Ausnahme: «Konkret sind Entführungen aus dem Kinderwagen selten, weil sich diese Umstände psychologisch im Weg stehen», sagt Knecht. Ein Mensch mit Empathie könne sein eigenes Bedürfnis nicht über den Raub stellen, der viel Schaden anrichtet. «Klaue ich ein Kind, muss ich gewissenlos sein – gleichzeitig kann ich einem Kind aber keine Wärme und Liebe geben. Leute, die eine solche Tat begehen, sind ein Grenzfall und definitiv eine Seltenheit.»