Sie hätten ihr Schicksal mittlerweile angenommen, sagt Karin Nicholls (63). «Die Schmerzen über den Verlust meines Bruders sind gleichwohl noch da.» Nicholls steht auf dem Friedhof von Porza TI. Einmal pro Woche kommt sie zum Grab von Steve Lee (1963–2010), um frische Blumen niederzulegen.
Heute Montag jährt sich der zehnte Todestag des unvergesslichen Gotthard-Sängers. Am 5. Oktober 2010 verunglückte Lee während einer Töffreise durch die USA. Ein Lastwagen erfasste den am Strassenrand stehenden Tessiner – er war auf der Stelle tot.
Er tourte mit AC/DC und Bon Jovi
Der Schock war riesig. Mit 2,5 Millionen verkauften Alben waren Gotthard damals die mit Abstand erfolgreichste Rockband der Schweiz. Auch international gehörten sie zur Spitze. Sie gaben Konzerte mit Superstars wie AC/DC und Bon Jovi, tourten regelmässig um die Welt.
Sein Sohn sei ein überaus sanftmütiger Mensch gewesen, erinnert sich Carlo Lee (91). «Steve hatte ein weiches Herz, er konnte nie Nein sagen, scheute jegliche Konflikte.» Bei seinem Tod habe er glücklicherweise nicht leiden müssen, ergänzt Carlo Lee. Diese Erkenntnis habe ihm in den vergangenen zehn Jahren Trost gespendet.
Der Mutter hingegen habe Steves plötzlicher Tod das Herz gebrochen, sagt Karin Nicholls. «Sie war danach nicht mehr dieselbe, ist ganz langsam erloschen.» Doris Lee (†89) starb vor zwei Jahren an den Folgen ihrer Alzheimer-Erkrankung. «Es war, als wollte sie unbedingt vergessen, was mit Steve geschehen ist.»
«Hier drinnen spüren wir seine Seele»
Die Schwester und der Vater leben heute im Haus, in dem Steve Lee bis zu seinem Tod gewohnt hat. Hier und da stehen noch einzelne Erinnerungsstücke herum – goldene Schallplatten, gerahmte Fotos, drei Bonsai-Bäume, die noch Steve gehört haben. «Hier drinnen spüren wir seine Seele», sagt Nicholls.
Zu den Lieblingserinnerungen der Podologin gehören Erlebnisse aus der Kindheit. «Steve war sechs Jahre jünger als ich, er war für mich immer ein bisschen wie ein Bäbi, mit dem ich spielen konnte.» Schön seien auch seine vielen Besuche in den USA gewesen. Nicholls, die mit einem Amerikaner verheiratet ist, wohnte elf Jahre in Chicago.
Sie sei nicht mehr wütend darüber, dass ihr Bruder so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde, sagt sie. «Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden. Und die Zeit vergeht so schnell. Aber eben, die Schmerzen gehen nie ganz weg.» Vater Carlo ist überzeugt: «Wir werden uns bald im Himmel wiedersehen.»