Heute vor 25 Jahren starb Friedrich Dürrenmatt
Der verkannte Hofnarr

Bei seinem letzten Bühnenauftritt sagte der missverstande und missinterpretierte Friedrich Dürrenmatt was man in diesem Land der Demokratie und Freiheit nicht sagen darf. Nämlich, dass die Schweiz ein Gefängnis sei, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben.
Publiziert: 13.12.2015 um 19:48 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:26 Uhr
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Jedem Klischee entrückt: Friedrich Dürrenmatt († 69).
Foto: laif
Von René Lüchinger

Der letzte Bühnenauftritt. Drei Wochen vor seinem Tod. Im Publikum sitzen Arnold Koller, Bundespräsident, alt Bundesrat Kurt Furgler, die Migros-Granden Jules Kyburz und Pierre Arnold. Und der tschechoslowakische Staatspräsident Václav Havel, der an diesem 22. November 1990 mit dem Gottlieb-Duttweiler-Preis ausgezeichnet werden soll.

Oben steht zum letzten Mal in seinem Leben Friedrich Dürrenmatt auf der Bühne.

Die Honoratioren schauen erwartungsvoll. Laudator Dürrenmatt formuliert stockend, ja unbeholfen. Als der grosse Literat fertig ist, herrscht unten Konsternation. Es fällt ein böses Wort: «Senilität». Und der alt Bundesrat spricht von einem «Ausbund an Primitivität».

Der oben sagte, was man in diesem Land der Demokratie und Freiheit nicht sagen darf: «Die Schweiz als Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben. Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle anderen Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität. Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit. Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.»

Unerhört, ja grotesk, solche Sätze auszusprechen, wenn in der ersten Reihe einer sitzt, der als Dissident tatsächlich jahrelang eingekerkert war.

Es gibt keinen Dank, kein Shakehands von der Schweizer Prominenz für den Laudator. Friedrich Dürrenmatt, der Einzelgänger, Eigenbrötler gar, steht wieder dort, wo er als politischer Kopf meistens steht: zwischen allen Fronten, zwischen Stuhl und Bank, missverstanden und missinterpretiert.

Für das bürgerliche Zürich, das an diesem Tag im Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) vor ihm hockt, und nicht nur für dieses, ist er ein Nestbeschmutzer. Ein launischer Hofnarr, der sich im mildesten Fall mit provokativer Lust an der Schweiz vergeht. Für die 68er-imprägnierte Linke ist er nun der vermeintliche Bruder im Geist, der wie sie die politische und gesellschaftliche Enge der Heimat geisselt. Dürrenmatt, der Antipatriot?

Sie alle gehen ihm auf den Leim. Für den begna­deten Dramatiker ist «eine Geschichte dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat». Und als diese kommt an diesem Tag im GDI, hört wohl schon keiner mehr hin.

Am Schluss der Rede erzählt Dürrenmatt den Bildungsbürgern im Publikum die Geschichte aus Platons Werk «Politeia», wonach die Seele eines jeden Menschen nach dem Tod das Los für ein neues Leben wählen muss, und als dieses Los die Seele des Odysseus trifft, inszeniert Dramatiker Dürrenmatt die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte. Sein letzter Satz: «Ich bin sicher, Odysseus wählte das Los, ein Schweizer zu sein.»

Dürrenmatt, der Pa­triot? Auch diesem Klischee entzieht er sich. «Einen Patrioten würde ich ihn nicht nennen», sagt Dürrenmatt-Biograf Peter Rüedi.

«Die Schweiz als Staat war ihm als pragmatisches Gebilde angenehm, aber jede Form von Verklärung zum ‹Vaterland› fand er lächerlich.» Um 1950 schreibt er den Aufsatz «Vom Ende der Schweiz». Dort steht: «Die Neutralität ist ein Vorrecht, das wir uns verdienen müssen, indem wir helfen. Darum ist es unsere Pflicht, die Menschen aufzunehmen, die an unsere Grenzen kommen. Nur eine Schweiz, die Flüchtlingen Schutz und Hilfe gewährt, hat ein Anrecht, da zu sein. Jeder Löffel Suppe, den wir ihnen geben, ist mehr wert, als sämtliche Reden unserer Landesväter und Professoren.»

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