BLICK traf Bettina Oberli (46) letzte Woche in einer Hotelbar beim Bahnhof Enge in Zürich. Die Regisseurin strahlt. Soeben hat sie per Mail erfahren, dass ihr neuer Film «Le vent tourne» am Festival im kalifornischen Santa Barbara als bester internationaler Film ausgezeichnet wird.
Herzliche Gratulation. Wissen Sie schon, was Sie an der Award Night sagen werden?
Bettina Oberli: Anfang Woche war ich für die Präsentation dort und kann leider nicht schon wieder rüberfliegen. Ich bin in der Schweiz voll mit Promotionsauftritten beschäftigt. Heute Abend beispielsweise in Meiringen, wo ich herkomme.
Sind die Reaktionen ortsabhängig?
Der Film stellt universelle Fragen, die uns alle beschäftigen, deshalb laufen die Gespräche darüber oft in eine ähnliche Richtung. Sollen wir mit aller Kraft versuchen, die Dinge wieder hinzubekommen, damit wir nicht in der Apokalypse enden, oder ist es sowieso zu spät? Und ist es vielleicht sogar egal, weil wir völlig unbedeutend sind im Universum? Die Menschheit als winzige Episode, als Fussnote? Deshalb ist «Le vent tourne» zwar ein Schweizer Film, funktioniert aber auch in Amerika. Oder in China, wohin wir gerade die Rechte verkaufen konnten. In Indien und Ägypten wurde er ebenfalls schon gezeigt.
Wie finden Sie Ihre Stoffe?
Wenn man mit offenen Sinnen durch die Welt geht, ist man empfänglicher für Dinge, die nicht nur Einzelne umtreiben. Wenn ich ein Thema habe, weiss ich, dass es mich sehr lange beschäftigen wird. Im vorliegenden Fall waren es vier Jahre. Also muss es mich ganz tief interessieren und darf nicht nur an der Oberfläche kratzen. Bei diesem Projekt wusste ich: Ich will eine komplizierte und archaische Liebesgeschichte machen, im Sinne eines griechischen Dramas. Und gleichzeitig mit Fragen, die uns heute beschäftigen. Beides zu kombinieren, damit es ein moderner Film wird, das war mein Anspruch. Das Windrad symbolisiert die Technologie und den Zeitgeist.
Denken Sie beim Arbeiten an ein Publikum?
Wahrscheinlich viel weniger, als man sich dies vorstellt. Man würde wohl verrückt werden, wenn man die ganze Zeit ein Publikum im Kopf hätte. Ich denke meistens an die Arbeit und an den Moment. Ich sehe mich auch nicht als Dienstleister am Kunden. Filme zu machen, ist nicht so, wie ein Auto zu produzieren. Klar möchte ich Leute erreichen und ihnen einen Mehrwert geben. Ihnen Vergnügen bereiten oder sie zum Denken anregen. Aber es ist jedes Mal so komplett anders, ich habe wirklich kein Kalkül und könnte nie eines haben. Das Schöne am Film ist: Du machst immer einen Prototyp und weisst dann nie, ob er funktioniert, wenn du ihn loslässt.
Sie haben das Drehbuch zu dritt geschrieben. Ist das nicht umständlich?
Ich arbeite immer so, mindestens zu zweit, ich brauche Sparringpartner. Schreiben für einen Film geschieht ja nicht linear, sondern ist permanentes Überarbeiten. Dazu braucht man den Austausch. Das Drehen ist dann komprimiert und muss schnell gehen, weil es teuer ist. Man muss sich extrem gut vorbereiten, die Vorlage muss also genau sein. Schreiben ist Pingpong. Und anstrengend. Es gibt Leute, die nicht im Team schreiben können, ich könnte es nie allein. Deshalb drehe ich auch gern. Ich liebe es, wenn eine Gruppe von Leuten etwas herstellt. Mein Beruf ist es, das Talent anderer Leute zu koordinieren. Ich muss die besten Leute finden, die bereit sind, ihr Talent für meinen Film herzugeben. Ich brauche sie. Ich habe nie das Gefühl, sie wollen mir etwas wegnehmen.
Die Männer kommen bei Ihrem neuen Film eher flach raus.
Nein, das finde ich nicht. Es sind moderne, sensible, intelligente Männer, keine Superhelden. Heute kann man Männerfiguren zeigen, die nicht einfach dreinschlagen, wenn ein Konkurrent kommt. Es sind differenzierte Männer, die mit starken und unabhängigen Frauen konfrontiert sind. Das ist nicht einfach für sie – wie im wahren Leben auch nicht.
Welcher Frauenfigur fühlen Sie sich am nächsten?
Meine Lieblingsfigur ist Galina, die junge Frau aus Tschernobyl. Alle andern sind radikal und haben sich verrannt. Sie kommt von aussen rein und bringt eine gewisse Coolness mit, einen trockenen Humor. Sie ist mehr entwickelt als alle andern, die reifste, erwachsenste, obschon sie die jüngste ist.
Bettina Oberli kam am 6. November 1972 in Interlaken BE zur Welt. Sie absolvierte das Lehrerseminar und liess sich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich zur Filmregisseurin ausbilden. Ihren Durchbruch schaffte sie 2004 mit «Im Nordwind». 2006 gelang ihr mit «Die Herbstzeitlosen» ein Kassenschlager. 2017 brillierte sie mit dem SRF-Zweiteiler «Private Banking», aktuell läuft das Drama «Le vent tourne». Oberli lebt in Zürich und ist mit Kameramann Stéphane Kuthy (51) verheiratet; sie haben zwei Söhne, Léon (15) und Aurel (12).
Bettina Oberli kam am 6. November 1972 in Interlaken BE zur Welt. Sie absolvierte das Lehrerseminar und liess sich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich zur Filmregisseurin ausbilden. Ihren Durchbruch schaffte sie 2004 mit «Im Nordwind». 2006 gelang ihr mit «Die Herbstzeitlosen» ein Kassenschlager. 2017 brillierte sie mit dem SRF-Zweiteiler «Private Banking», aktuell läuft das Drama «Le vent tourne». Oberli lebt in Zürich und ist mit Kameramann Stéphane Kuthy (51) verheiratet; sie haben zwei Söhne, Léon (15) und Aurel (12).
Anastasia Shewtsowa ist wirklich ein Glücksfall. Wie haben Sie sie gefunden?
Ich habe sie in «Polina» mit Juliette Binoche gesehen, einem Tanzfilm. Sie ist Tänzerin, gar keine Schauspielerin. Sie war klassische Balletteuse am St. Petersburger Theater. Eine französische Castingfrau hat sie mir dann vorgeschlagen. Wir haben einen Kaffee getrunken, und sie hat mir sofort gefallen. Sie hat ein wunderbares Gesicht, in dem enorm viel passiert.
Während «Le vent tourne» läuft, sind Sie sind schon am kommenden Film. Was können Sie uns dazu schon sagen?
Mein nächster Film wird eine Comédie humaine. Es geht um eine polnische Pflegehilfe und ist eine Geschichte, wie ich sie eigentlich immer erzähle: Der Alltag plätschert dahin, dann passiert etwas, und alles wird auf den Kopf gestellt. Ich habe viel recherchiert und könnte ein hartes Sozialdrama daraus machen. Aus diesem Thema, das uns Schweizer immer beschäftigt hat: Ausländer, die uns helfen kommen und dafür auf ihr eigenes Leben verzichten. Spätestens seit dem Gotthardtunnelbau ist das so. Das ist in der Anlage dramatisch, aber ich habe mich für einen absurderen Tonfall entschieden.
Aktuell heiss diskutiert werden auch die kommenden Streaming-Angebote des Bundes und der Solothurner Filmtage, die Schweizer Filme zugänglicher machen wollen. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Ich finde es sehr erfreulich, dass etwas in dieser Richtung passiert. Die Leute laden sowieso alles runter, deshalb ist es besser, das selber zu kontrollieren. In der Hoffnung, auch neue Einnahmen zu generieren. Ich sehe ganz einfach die Realität, wir sind alles Idealisten. Oder kennen Sie einen Schweizer Filmregisseur, der fett und reich mit dem Ferrari rumfährt? Also ich nicht.
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