Hausbesuch bei Thierry Amsallem
Erstmals spricht Claude Nobs' Lebenspartner

Montreux hat das beste Musikfestival. Und das grösste Musikarchiv der Welt – Thierry Amsallem ordnet es neu. Er verwaltet das Erbe von Claude Nobs.
Publiziert: 28.06.2014 um 12:48 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:59 Uhr
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Thierry Amsallem verwaltet Claude Nobs' Erbe im Châlet über Montreux - Musik, Kunst und Kitsch.
Foto: Nicolas Righetti
Von Christian Maurer

Hoch über Montreux VD klebt das Châlet Le Picotin am steilen Hang. Voralpenluxus in einem ehemaligen Bauernhaus. Hier lebte und feierte Claude Nobs. Und hier, von seinem Büro-Schlafzimmer mit Blick auf den Genfersee, organisierte er bis zu seinem plötzlichen Tod vor eineinhalb Jahren das Montreux Jazz Festival. Und ebenfalls hier lagert das Vermächtnis des legendären Festival-Gründers: 4000 Stunden Live-Aufnahmen, vielleicht sind es auch 5000 Stunden, von allen Konzerten auf den Hauptbühnen des Festivals seit seiner Gründung 1967. Das meiste davon auf Tonbändern und Zelluloid.

Gigantische Jukebox ist Weltkulturerbe der Unesco

Das Archiv ist eine gigantische Jukebox, ein unschätzbarer Schatz. Nicht nur für die Musik-, sondern auch der Modegeschichte. Lustig, wie sich die Bühnenoutfits und die Klamotten des ebenfalls aufgezeichneten Publikums in gut vier Jahrzehnten gewandelt haben. Thierry Amsallem (50), ein Vierteljahrhundert Nobs’ Lebenspartner, ist Hüter dieses Schatzes, der seit einem Jahr zum kulturellen Welterbe gehört und auf der Liste der Unesco steht. Stunden verbringt er im Bunker, wo das Archiv unter einer 80 Zentimeter dicken Betondecke lagert. Zusammen mit der ETH Lausanne ist er daran, das musikalische Gedächtnis von Claude Nobs für die Zukunft zu sichern – «für eine ultralange Zeit», wie Amsallem sagt. Er meint die nächsten 100 Jahre. Das heisst: die fragilen Ton- und Bildträger auf moderne Technik überspielen. 75 Prozent ist bisher digitalisiert, zehn Millionen Franken kostet die Übung. Nächstes Jahr soll sie fertig sein.

Das Archiv soll ab 2015 an der Lausanner Hochschule für Forschung und Unterricht zugänglich sein. Kommerzielle Nutzung ist ausgeschlossen, mindestens so lange wie die meisten Aufnahmen noch den Schutz des Urheberrechts geniessen. Die Veröffentlichung der Aufnahmen wäre Millionen wert. 20 000 Musiker, Ikonen der modernen Musikgeschichte: Tony Bennett, George Benson, Chuck Berry, David Bowie, James Brown, Johnny Cash, Tracy Chapman, Ray Charles, Eric Clapton, Joe Cocker, Phil Collins, Miles Davis, Deep Purple, Bob Dylan, und, und, und ...

Für viele Musiklegenden aus den USA war Montreux die einzige Station in Europa. Für viele war diese auch das erste oder das letzte Mal. Miles Davis hatte 1991 seinen letzten Auftritt, Marvin Gaye wurde hier das erste und das letzte Mal fürs Fernsehen aufgenommen. Aretha Franklin gab 1968 in Montreux ihr Europadebüt.

Jimi Hendrix stirbt kurz vor seiner Montreux-Premiere

Wenige schafften es nicht an den Genfersee. Jimi Hendrix war schon verpflichtet, Claude Nobs hatte ihn mit 10 000 Franken für den Vorschuss im Rucksack in Grossbritannien aufgestöbert – doch der wilde Gitarrist starb kurz vor seinem geplanten Auftritt.

Andere kamen, bevor sie richtig berühmt wurden. Adele etwa war 2008 da. «Auf der Bühne war eine kleine Pummelige, die keiner kannte», erinnert sich Thierry Amsallem. Oder der Schweizer Bastien Baker, den Nobs 2011 in seinen Kreis aufnahm und der seither durchgestartet ist.

Immer waren Auftritte etwas Besonderes. Sting und Prince waren auf der Bühne nicht wiederzuerkennen, jazziger als bei jedem anderen Konzert. So ist das Archiv voller musikalischer Leckerbissen – Unikate, Improvisationen in zusammengewürfelten Formationen. Charles Lloyd und sein Quartett mit Keith Jarrett, Cecil McBee und Jack DeJohnette am ersten Festival 1967. Zwei Jahre später kamen Les McCann und Eddie Harris, deren Improvisation «Swiss Movement», die bestverkaufte Jazz-Platte aller Zeiten war. Der Einzige, der sich dem Aufnahmeprozedere einmal entzog, war Bob Dylan. «Er hats mittlerweile bereut», erzählt Amsallem mit maliziösem Schmunzeln. Dylan selber soll dieses Konzert für sein bestes gehalten haben. Dass es davon keine Spur gibt, soll ihn bis heute ärgern.

«Live at Montreux» ist ein Markenzeichen. Rund 500 Konzerte wurden auf Platten gepresst. «Das war immer Werbung für die Musiker und für das Festival», erklärt Amsallem das Marketinggenie von Claude Nobs.

Heute wartet Nobs’ Châlet auf seine neue Bestimmung. Seit dem Tod des Hausherrn herrscht in den niedrigen Räumen Dornröschenschlaf. Ein Flipperkasten wurde an die Freddie-Mercury-Gedenkstätte nach Montreux gegeben und ein paar Nippes neu platziert. Aber sonst sieht es aus, als wäre «Funky Claude» nur schnell runter nach Montreux in sein Büro gefahren.

Aber die Zeit der grossen Partys ist endgültig vorbei. Ob die Haupt-Acts dieses Jahres, Stevie Wonder und Pharrell Williams, nach ihrem Auftritt zum Feiern die enge Strasse nach Caux VD hochfahren werden? «Wir wissen es nicht», heissts im Châlet. Das hätte es zu Nobs’ Zeiten nicht gegeben. Keiner lehnte seine Einladung ab.

Claude Nobs’ wohltemperierter Mikrokosmos dreht sich weiter – seit der Sonnenkönig nicht mehr ist, aber nur mehr um die eigene Achse. Seine Epigonen suchen neue Rollen und kreisen um das schwarze Loch, das er hinterliess – «Like a Fatherless Child», frei nach Van Morrison, einem Stammgast im Châlet und auch dieses Jahr am Montreux Jazz Festival.

Was bleibt? Ein Archiv mit Musik aus Bits und Bites aus einem halben Jahrhundert.

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