Gardi Hutter, wie geht es Ihnen?
Gardi Hutter: Ich bin bis auf die Knochen erschöpft. Todmüde.
Oje, weshalb?
Ich bin gerade von einer sechswöchigen Tour nach Hause gekommen, Portugal, Italien, Deutschland, Schweiz und zuletzt noch einen Schlenker ins Südtirol. Wegen Covid herrschte Stau an abgesagten Vorstellungen, und alle Termine wurden aufs Mal nachgeholt. Und dann diese grosse Hitze, es war nicht mehr schön. Ich bin nur froh, habe ich das gesund überstanden.
Wenn Sie von einer Tour nach Hause kommen – sind Sie dann froh oder fallen Sie in ein Loch?
Beides. Der ganze Rhythmus einer Tournee, jeden Tag an einem anderen Ort, Aufbauen, Spielen, Abbauen, Pannenlösen, Requisiten gehen kaputt, das ist alles stressig, weil um acht der Vorhang aufgehen muss. Und diese Frequenz trägt man mit nach Hause, man kann dann nicht sofort in den ersten Gang runterschalten, sondern ist eigentlich immer noch mit heulendem Motor unterwegs, ohne aber die erlösende Vorstellung zu haben. Das Wort «De-pression» heisst ja Druck, der abfällt. Auf Tour habe ich mit so vielen tollen Menschen Kontakt, da bin ich übersozialisiert. Und wenn ich dann nach Hause komme, bin ich isoliert, denn in dieser Zeit ging das Leben hier ohne mich weiter. Wieder in Ruhe und Entspannung zu kommen, ist aufwendig.
Sie sind 69 – wirkt sich das Älterwerden auf Ihre Arbeit aus?
Die Regenerationszeit ist länger. Ich müsste rein finanziell nicht mehr touren. Aber es würde mir fehlen; ich tue, was ich tue, mit immenser Freude. Und es hält sich die Waage: Das Reisen strengt mich mehr an, andererseits habe ich durch meine fast 50-jährige Spielerfahrung eine grosse Gelassenheit auf der Bühne. Ich brauche weniger Energie. Heute habe ich das Gefühl, ich tanze auf der Bühne, früher habe ich da gearbeitet. Das nennt sich wohl, wie bei einem Schreiner, Meisterschaft. Wenn man so lange an etwas arbeitet, wird es einem zur Natur.
«Sie haben Talent, aber Sie sind klein. Sie werden nie eine Hauptrolle spielen.» Mit diesem Satz beginnt die dieses Jahr erschienene Biografie über Gardi Hutter (69) von der Historikerin Denise Schmid – und mit diesem Satz begann eine der grössten Bühnenkarrieren, die die Schweiz je gesehen hat. Denn die damals 21-jährige Hutter wurde trotz dieser Bedenken an der Schauspielakademie Zürich aufgenommen – und schrieb sich fortan ihre Hauptrollen selbst. Mit durchschlagendem Erfolg: Mittlerweile hat sie weltweit über 4000 Vorstellungen gegeben, 21 renommierte Kunst- und Kulturpreise gewonnen und dreizehn Bühnenprogramme entwickelt, vier Kinderbücher geschrieben, in vier Filmen mitgespielt, das Drehbuch geschrieben oder Regie geführt. Hutter ist Mutter zweier erwachsener Kinder und lebt in Arzo TI.
«Sie haben Talent, aber Sie sind klein. Sie werden nie eine Hauptrolle spielen.» Mit diesem Satz beginnt die dieses Jahr erschienene Biografie über Gardi Hutter (69) von der Historikerin Denise Schmid – und mit diesem Satz begann eine der grössten Bühnenkarrieren, die die Schweiz je gesehen hat. Denn die damals 21-jährige Hutter wurde trotz dieser Bedenken an der Schauspielakademie Zürich aufgenommen – und schrieb sich fortan ihre Hauptrollen selbst. Mit durchschlagendem Erfolg: Mittlerweile hat sie weltweit über 4000 Vorstellungen gegeben, 21 renommierte Kunst- und Kulturpreise gewonnen und dreizehn Bühnenprogramme entwickelt, vier Kinderbücher geschrieben, in vier Filmen mitgespielt, das Drehbuch geschrieben oder Regie geführt. Hutter ist Mutter zweier erwachsener Kinder und lebt in Arzo TI.
Was haben Sie in der Zeit gemacht, als alles abgesagt wurde?
Ich habe mich mit der Historikerin Denise Schmid hingesetzt, und sie hat meine Biografie geschrieben, die letztes Jahr herausgekommen ist. Das war spannend, weil ich mein bisheriges Leben in eine Art Ordnung bringen musste.
Wenn Sie so zurückschauen: Was hätten Sie in diesen 40, 50 Jahren anders oder wieder genau gleich gemacht?
Ich bin erstaunt, dass das Gesamtpaket so gut rausgekommen ist. Ich bin so chancenlos am Start gestanden, dass alles eine Überraschung ist.
Weshalb?
Ich bin kunstfern aufgewachsen, ich hatte weder ein Netzwerk noch ein Wissen, ich hatte nicht die richtige Bildung, ich hatte nicht das richtige Aussehen, ich habe eigentlich nirgendwo hingepasst. Und das, was jetzt hier ist, das habe ich mir selbst erschaffen. Das freut mich am meisten. Das ist Kreation an und für sich, dass ich etwas erfinde, das es vorher nicht gegeben hat. Und ich musste ja auch.
Wie meinen Sie das?
Ich war komisch talentiert. Und es gab und gibt kaum Rollen für junge, komisch talentierte Frauen. Komik musst du dir erspielen, das kannst du nicht theoretisch lernen. Heute gibt es im Kabarett, der Comedy und der Spoken-Word-Szene einige junge Frauen. Im komischen «physical theatre» sind Frauen noch rar – im Tanz sind es viele. Als ich anfing, war ich gezwungen, mir mein Material selber zu schreiben, weil ich nichts Passendes gefunden habe.
Wie kommt man denn aus einem kunstfernen Haushalt dazu, Clown zu werden?
Ich bin aus Rebellion ins Theater. Meine Eltern waren, wie ihre Umgebung, sehr katholisch und sehr streng. Ziel der Erziehung war das brave Mädchen und die sich aufopfernde Hausfrau. Ich habe den gesellschaftlichen Riss, der in den 1970er-Jahren stattgefunden hat, als Teenager zu Hause vollzogen. Theater war das, was von meinem Zuhause weitestmöglich entfernt war.
Sie haben zwei Kinder grossgezogen – wie haben Sie es gleichzeitig geschafft, selbständige Künstlerin zu sein?
Ich habe geplant. Nachdem das erste Stück gut gelaufen war, habe ich ziemlich bald das zweite in Angriff genommen. Die Premiere lief gut, das Stück hat sich leicht verkauft. Ich dachte: Die nächsten Jahre finden ruhige Tourneen statt, da ist Platz für ein Kind. Und glücklicherweise hat das sofort geklappt. Das zweite Kind habe ich dann nach der dritten Premiere gemacht (lacht). Das klingt jetzt so salopp, aber ich musste das planen – die Agentin verkauft ein Jahr im Voraus; wenn ich sage, ich brauche ein halbes Jahr Pause, dann muss sie das lange im Vornherein wissen. Zum Glück haben meine Kinder das Spiel mitgemacht. Und als sie klein waren, habe ich sie einfach auf Tournee mitgenommen.
Im neuen Stück «Gaia Gaudi» stehen Sie gemeinsam auf der Bühne.
Ja, das konnte aber erst zehn, zwölf Jahre nachdem sie ausgezogen sind, geschehen, das war ein Wiederzusammenkommen auf neuer, künstlerischer Ebene. Nicht einfach, aber da es im Stück um den Generationenkonflikt ging, waren die Konflikte nicht nur schwierig, sondern auch spannendes Material. Mein Sohn hat als Erstes gefragt: Und wenn wir uns nicht einig sind, wer entscheidet dann? Meine erste Reaktion war natürlich: «Ich», aber davon bin ich schnell abgekommen. Eine Zusammenarbeit zwischen den Generationen ist nur dann spannend, wenn sie als kreatives Team zusammenarbeiten – und die Welten aufeinanderprallen.
Spüren Sie immer noch eine gewisse Dringlichkeit bei den Programmen, die Sie erarbeiten, oder haben Sie eigentlich alles gesagt, was Sie zu sagen haben?
Das Schöne ist: Ich muss nichts mehr. Ich muss niemandem etwas beweisen, ich muss wirtschaftlich nicht mehr – aber ich kann. Alles Neue kommt aus reiner Freude am Spielen. Ich will noch mal ein Programm machen – eins, das ich immer schon wollte, aber noch nie geschafft habe: eine leere Bühne. Pures Spiel. Da bin ich mit meinem Regisseur im Gespräch.
Können Sie dazu inhaltlich schon etwas sagen?
Es geht ums nichts, darum, was Kreativität eigentlich ist, nämlich aus nichts etwas zu erschaffen. Ich riskiere mich gerne immer wieder von neuem.
Aber gibt es nicht auch so etwas wie einen roten Faden, der sich durch Ihre Stücke zieht?
Der Tod. In acht von neun Stücken bin ich am Ende tot, und im neusten, «Gaia Gaudi», bin ich schon am Anfang tot, habe es aber noch nicht bemerkt. Die «Seele» wummert noch rum und weigert sich zu gehen. Die letzte Aufgabe alter Menschen ist wohl einfach, den Platz freizugeben.
Sie haben ja auch einmal darüber gesprochen, dass Sie Exit-Befürworterin sind.
Ich denke, wir müssten uns als Gesellschaft viel mehr Gedanken darüber machen, wie wir würdevoll gehen können. Ich bin aber noch nicht dazu gekommen, meine Mitgliedschaft zu regeln.
Warum nicht?
Der Fragebogen ist so kompliziert. Bislang habe ich eine Patientenverfügung unterschrieben, um jahrelanges Dahinvegetieren zu verhindern. Aber ich bin eigentlich Expertin für fröhliches Sterben.
Fröhliches Sterben?
Ausser beim Stück «Souffleuse» bin ich in allen Stücken am Schluss tot. Fröhlich gestorben. Aber, ob lachend oder weinend: Da gehen wir alle hin. Deshalb finde ich es seltsam, dass der Tod, neben Körperausscheidungen, eines der einzigen Tabuthemen ist, die uns bleiben.
Weshalb zieht sich denn der Tod so durch Ihre Stücke?
Die eigentliche Aufgabe des Clowns ist, den ganzen Weltschmerz auf sich zu nehmen und diesen so sehr zu übertreiben, dass er ins Komische kippt. Der Schmerz wird ertragbarer, indem man über ihn lacht. Und der Tod ist der grösste Schmerz, der Urschmerz. Der Clown und seine verwandten Figuren haben sich aus Ritualen um den Tod herum entwickelt.
Das müssten Sie bitte genauer erklären.
Lachen ist eine Kulturleistung, die wir im Laufe der Evolution erworben haben. Und Lachen, das zeigt die Wissenschaft heute, verringert Stress und Depressionen, stärkt das Immunsystem, es wirkt Angststörungen entgegen. Weil der Tod uns totale Angst macht, haben die Menschen die geniale Strategie entwickelt, darüber zu lachen. Wir können ihn damit nicht besiegen, aber wir können uns entspannen.
Was lernt man als Clown über die Menschen?
Dass wir etwas speziell entwickelte Tiere sind. Was die Natur an Evolution und Erfindungsgabe alles hervorgebracht hat, das ist unglaublich. Wir sollten uns jeden Morgen am Wunder erfreuen, dass es uns überhaupt gibt. Und wir dummen Löli machen aus lauter Gier alles kaputt. Ich hoffe, dass wir den Rank noch schaffen, uns nicht selbst von der Erde katapultieren.
Das klingt fast, als würden Sie an der Menschheit verzweifeln.
Die Verzweiflung, oder eher das Kopfschütteln, ist konkret. Aber nicht zynisch. Als Clown liebe ich die Menschen, auch wenn ich vor allem ihre lächerlichen Seiten zeige. Wir wollen alle cool und super sein und sind doch immer wieder jämmerlich. Und weil der Clown diese Erbärmlichkeit auf die Spitze treibt, ohne zu moralisieren, kann das Publikum über sich selbst lachen.
Denise Schmid: «Trotz allem. Gardi Hutter.», Verlag Hier und Jetzt, ca. 40 Franken