Von André Häfliger und Myrte Müller

Die Sonne lacht, hoch über dem Tessiner Dörfchen Porza bei Lugano. Karin Nicholls (54) läuft langsam zum Grab ihres Bruders. Zur letzten Ruhestätte von Gotthard-Sänger Steve Lee († 47). Übermorgen ist es ein Jahr her, dass der unvergessliche Rocksänger auf einer Töfftour in Amerika tödlich verunglückte. Gefasst steht Karin Nicholls vor der geschmückten Grabstätte. Rosen, Kakteen, Kerzen, weisse Engelchen – und zwei massive Steine sind zu sehen.

Der grössere Stein mit Bild und Name von Steve Lee kommt aus dem Gotthardmassiv. Von einem Fan der beliebten Hardrock-Band. Den kleineren Stein hat Karin Nicholls aus dem Calancatal hergebracht. Auf der Metallplatte stehen Erinnerungsworte von Lees Vater Karl (82): «Dieser Fels wird über dich wachen.» Ruhig steht Steves Schwester Karin vor dem Grab. Leise sagt sie über ihren Bruder, der sieben Jahre jünger war als sie: «Ich trauere jeden Tag um Steve. Er war wie mein Baby – das wird er bleiben.»

Karin Nicholls ist eine emotionale, starke Frau. «Ein Jahr voll Auf und Abs habe ich erlebt», sagt sie. «Eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Mit friedlichen Momenten. Aber auch mit traurigen Augenblicken voller Tränen.»

«Wir wissen alle, dass Steve irgendwie weiterhin unter uns ist»

Im Haus in Porza, wo Steve Lee wohnte, erzählt Schwester Karin weiter. «Wir wissen alle, dass Steve irgendwie weiterhin unter uns ist», sagt sie. «Das gibt uns Kraft.» Die Familie habe den schweren Schicksalsschlag inzwischen «so weit es geht» akzeptieren können. Seit Ende Juni wohnt Karin Nicholls mit Mann und Sohn hier. Die kleine Wohnung unten im Haus ist für Besuche der Eltern, die mit Karins zweitem Bruder Tomaso (55) in Spanien leben.

Vieles erinnert sie hier an Steve. «Seine Sammlung von rund 20 Bonsai-Pflanzen.» Oder die Widmung der Bandkollegen: eine grosse, weisse Kerze, die sie jeden fünften Tag des Monats einen Tag lang brennen lässt.

Ein Jahr nach Steve Lees Tod spüre sie auch grosse Dankbarkeit: «Ich will allen Fans und Freunden für die riesige Anteilnahme danken. Dankbar ist unsere Familie auch Steves Freund Flavio Hochstrasser. Ohne seine Hilfe wären wir verloren gewesen», sagt Karin, während sie nachdenklich in die Flamme der weissen Kerze blickt.