Dieser Kopf! Geht immer vorneweg. Als Vorhut des Körpers. Vielleicht, weil die Neugier, die Uli Sigg umtreibt, mit dieser Haltung am schnellsten zu befriedigen ist. Seit über einem Vierteljahrhundert hat diese Neugier einen Fixpunkt: das Reich der Mitte. Jetzt wurde sein Leben verfilmt: «The Chinese Lives of Uli Sigg».
Wenn einer mit einem Kinofilm geehrt wird, sind die Laudatoren nicht fern. «Ein Macher», weiss der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei über Uli Sigg, der bereits chinesische Gegenwartskunst sammelte, als noch niemand sie auf dem Radar hatte. «Ein Visionär», sagt Kunstexpertin Alexandra Munroe über jenen Mann, der vor dreieinhalb Jahrzehnten das erste Gemeinschaftsunternehmen zwischen einer chinesischen und einer westlichen Firma gegründet hat. «Ein toller Freund», urteilt Jacques Herzog von Herzog & de Meuron, dem Basler Architekturbüro, das derzeit in Hongkong M+ baut – das Museum für Visual Culture, dem Sigg die Mehrheit seiner weltweit grössten Sammlung chinesischer Gegenwartskunst geschenkt hat. «Ich habe», sagt Sigg selber, «damit ein Versprechen erfüllt.»
Das klingt nach Masterplan, nach Gesamtkunstwerk: Kunst sammeln. Kunst verschenken. Und schliesslich ein 90-minütiger Kinofilm über Uli Sigg, den Kunstmäzen. Die Realität freilich sperrt sich gegen eine solche Interpretation. In diesem Leben ist vieles Zufall, die Liaison mit China sowieso: Dass sie sich über Jahrzehnte intensivierte, ist eher der Tatsache geschuldet, dass der Protagonist als ehemaliger Spitzenruderer den langen Atem hat, der für den grossen Erfolg vonnöten ist. Uli Sigg selber ist keiner, der das Scheinwerferlicht sucht. Leichtfüssig, aber meist am Rande, als beinahe unbeteiligt Beteiligter schreitet er durch den Film. Unbewusst dokumentiert er damit: Die Hauptrolle in diesem Kino gebührt den chinesischen Künstlern und ihrer Kunst.
Sigg selber wurde durch eine Laune der Geschichte in die Starposition versetzt, die er so nie gesucht hat. Diese Story beginnt 1978, als Chinas KP-Patriarch Deng Xiaoping am Parteitag verkündet, das Land brauche Kapital, Technologie und eine Politik der offenen Türe, also Hilfe von aussen. Bald taucht im luzernischen Ebikon, am Hauptsitz des Schindler-Konzerns, eine Delegation aus Peking auf: Die Chinesen haben zu Hause ein paar Schindler-Lifte aus der Zeit vor Maos Revolution entdeckt und wollen nun moderne Aufzugstechnologie, um in die Höhe zu bauen.
Sigg ist kurz zuvor bei Schindler eingetreten: der Spross aus einer der drei Aktionärsfamilien hat das Amt «Leiter Export» übernommen. So landen die Besucher aus China bei ihm – und so landet Sigg 1979 erstmals im Reich der Mitte. Es folgen endlose Verhandlungen, meist sitzen ihm zwei Dutzend Kontrahenten gegenüber, und die Luft ist derart rauchgeschwängert, dass die Truppe meist nur schemenhaft zu sehen ist.
Sigg weiss, dass die Chinesen parallel mit Japanern und Amerikanern verhandeln. Einem Ruderer gleich, bleibt er beharrlich in der Spur, bringt die Gespräche, wenn sie ins Stocken geraten, wieder in Schwung und behält dabei stets sein Ziel im Auge: das erste Joint Venture einer westlichen Firma mit einem chinesischen Staatsbetrieb überhaupt – für Investitionen im aufstrebenden Schwellenland hat es Modellcharakter.
Am 5. Juli 1980 erteilen die Behörden der CSE China Schindler Elevators Company die Produktionsbewilligung – Sigg taucht tiefer und tiefer in die widersprüchliche chinesische Wirklichkeit ein. Die Strasse zur Fabrik ist in den frühen Achtzigerjahren noch ungeteert, der Wegrand mit Plakaten über politisch motivierte Hinrichtungen gepflastert.
Als er seinem chinesischen Partner eröffnet, dass für die gemeinsame Firma für rund 140'000 Franken ein Chef aus dem Westen angeheuert werden müsse, schaut der ihn ungläubig an: «Das ist das das Gehalt von 120 Chinesen!» Angesichts dieser Unübersichtlichkeiten sucht der Schweizer den Schlüssel zum tieferen Verständnis Chinas in der zeitgenössischen Kunst.
Mitte der Neunzigerjahre, am Filmfestival in Locarno TI, fragt ihn Bundesrat Flavio Cotti unverhofft, ob er nicht als Quereinsteiger Schweizer Botschafter in Peking werden wolle. Der Aussenminister handelt mit Bedacht: Kaum ein anderer Schweizer kennt das sich öffnende Land besser als Uli Sigg; kein zweiter unterhält bessere Kontakte zu dessen politischer Spitze – der spätere Staatspräsident Jiang Zemin etwa sass ihm bereits gegenüber, als über die gemeinsame schweizerisch-chinesische Firma verhandelt wurde.
Nun, als Botschafter, treibt Sigg seine Sammlertätigkeit voran. Er verbannt die Zürcher Konkreten von den Wänden der Botschaft und bestückt sie mit Gegenwartskunst aus China. Und abends, nach getaner Arbeit, meist nach 22 Uhr, tut er, was sein Herz begehrt: er besucht die Künstler in ihren Ateliers – oft kauft er auch. Doch er ist kein klandestiner Privatsammler. Er will über die Kunst erschaffen, was er «Das Dokument» nennt – ein Zeugnis von Chinas Übergang seit 1979 bis zur Gegenwart. Und er will dieses Dokument dem chinesischen Volk zurückgeben: Ein Grossteil der einzigartigen Sammlung wird ab 2019 in Hongkong ausgestellt.
Im Film packen Zügelmänner einzelne Kunstwerke bereits in Kisten. «Es ist der Anfang vom Ende», sagt Uli Sigg mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme.