Es gibt für Eltern nichts Schlimmeres, als das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen. Mit diesem Schicksalsschlag müssen der als Cash-Guru bekannte Börsenspezialist Alfred «Fredi» Herbert (84) und seine Gattin Erika (85) nun umgehen. Ihr geliebter Sohn Pierre Alfred wäre gestern 58 Jahre alt geworden, doch er ist tot. Verstorben an den Folgen eines Lungentumors.
Darüber zu sprechen, fällt dem stattlichen Mann schwer, sehr schwer. Immer wieder werden seine Worte von Tränen endloser Traurigkeit unterbrochen. Doch er möchte seine Geschichte erzählen, dies mit einer klaren Botschaft, der des Versöhnens.
Die Mädchen standen mit Kuchen für Pierre vor der Tür
Pierre, die Autorin lernte ihn während der Teenagerzeit kennen, war der Mädchenschwarm in Jona SG und Rapperswil SG schlechthin. Gut aussehend, charmant, wild und überaus witzig. «Oft standen die Schülerinnen mit selbst gebackenem Kuchen vor unserer Tür. Meinten, sie wollen mit Pierre nur Hausaufgaben machen, die habe ich aber sofort weggeschickt», erzählt Herbert, dies mit einem sanften Lächeln.
Sein erstgeborener Sohn, der schon als Kind den Übernamen «Piesli» bekam, habe von ihm den Ehrgeiz geerbt. «Schon als Junge wollte er auf dem Vita Parcours schneller sein als ich, später ebenfalls Grenadier werden.» Dies haben er und sein Bruder Dani (56) geschafft, Pierre wurde Grenadier-Offizier, zum Stolz des Vaters. «Wir waren drei Männer und drei Grenadiere, das können nicht viele Familien von sich sagen», so Herbert.
Der Alkohol wurde sein Begleiter
Doch Pierre, der Wildere seiner Buben, strebte stets nach mehr. «Er ist hoch geflogen und tief gefallen», so das traurige Fazit der Börsenlegende. Auch da trat sein Sohn in seine Fussstapfen, machte weltweit eine unglaubliche Karriere als Banker, am Karrierehöhepunkt war er stellvertretender Generaldirektor der Société Générale de Banques (SocGén). «Er war oft verantwortlich für Hunderte Millionen Dollar und mehr, reiste innerhalb kürzester Zeit von New York nach Hongkong und direkt wieder zurück. Der Erfolgsdruck, der auf ihm lastete, war schon fast unmenschlich.» Die Begleiterscheinung und Händlerkrankheit: Pierre begann massiv zu trinken, wurde schwerster Alkoholiker. «Er war sehr schnell gefangen in seiner Sucht. Ich bin eines Tages zu ihm nach Paris gefahren, habe ihm gesagt, pack deine Sachen, ich hole dich jetzt nach Hause.»
Was folgte war ein Marathon aus Entzügen und Therapien. «Leider hat keine wirklich genutzt. Kaum war er zu Hause, schlich er nachts zur Whiskeybar.» Hinzugekommen sei, dass ihm infolge eines Militärunfalls der rechte Unterschenkel amputiert werden musste, womit er jedoch erstaunlich gut umgegangen sei, so Herbert. Die Familie drohte an seiner Sucht kaputt zu gehen. «Täglich wurden die Herzen von mir und meiner Frau gebrochen, er musste gehen, sonst wären wir alle miteinander untergegangen.»
An Pierres Sterbebett versöhnte sich der Vater mit ihm
Die letzten drei Jahre lebte Pierre Herbert in einem Pflegeheim in Zürich. Das Trinken und Rauchen habe er auch da nicht aufgeben können. Sein Vater brach den Kontakt zu ihm ab, die Mutter nicht. Die Frage, weshalb Pierre so weit gesunken sei, lässt seine Eltern nicht los. «Er hatte alles, wuchs sehr behütet und privilegiert auf. Vielleicht haben wir ihn überbehütet, ich weiss es nicht.» Seine Frau und er müssten nun versuchen, nicht im Strudel von Selbstvorwürfen zu versinken. «Wir sprechen sehr viel miteinander, das tut uns gut», sagt er.
Nach der langen Funkstille kam am 19. Februar 2021 der Anruf von Pierres Tochter Julija (35). «Sie sagte: ‹Bitte kommt, es geht zu Ende mit ihm.›» Im letzten Moment schafften es seine Eltern und sein Bruder von Rapperswil ins Zürcher Spital Triemli. «Pierre war schon fast weg. Als wir kamen, öffnete er kurz die Augen. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebe, ich stolz auf ihn sei und er immer zu unserer Familie gehörte und gehören werde.» Da habe sein Sohn gelächelt und seine Augen für immer geschlossen, während seine Mutter Erika ihn hielt. Beim Erzählen weint Alfred Herbert bitterlich, dann sagt er: «Wir versöhnten uns am Sterbebett. Das ist für mich unendlich wichtig und tröstlich.» Wäre dies nicht möglich gewesen, er hätte es sich sein Leben lang nicht verziehen. «Nun versuchen wir Pierre in liebevollen Gedanken loszulassen und uns an die wunderschönen Zeiten zu erinnern, die wir mit ihm hatten.»
BLICK: Wie können Eltern je verkraften, dass ihr Kind gestorben ist?
Anja Niederhauser: Ein Kind zu verlieren, ist unsagbar schmerzhaft. Es widerspricht dem Lauf der Natur. Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind, und es zu verlieren, ist für die meisten Eltern das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ich denke, die Trauer und die Sehnsucht bleiben. Mit der Zeit verändert sich die Trauer, und es können auch schöne, tröstliche Erinnerungen wieder Platz haben. Wichtig ist, sich Zeit zu lassen.
Was ist da zentral, was soll man meiden?
Zuerst einmal geht es darum, zu trauern und den Schmerz zuzulassen. Sich mit Menschen zu treffen, die einem zuhören und keine guten Ratschläge geben. Manche Elternteile trauern ganz verschieden und haben unterschiedliche Strategien, damit umzugehen: Da ist es wichtig, sich nicht aus den Augen zu verlieren in der Trauer. Miteinander im Gespräch zu bleiben, vielleicht miteinander zu besprechen: Was tut dir gut, und was tut mir gut. Sich gegenseitig Schuld zuzuschieben, ist sicher etwas, was man vermeiden sollte. Es vergrössert den Schmerz noch.
Das quälende Warum, wird man das jemals los – und wenn ja, wie?
Die Menschen gehen mit dieser Frage sehr unterschiedlich um. Die einen ringen lange mit dieser Frage, bei anderen kommt sie nie auf. Wenn uns etwas derart Schmerzliches passiert, ist die Frage, finde ich, berechtigt, sie drückt aus, dass für uns etwas Sinnloses, Unfassbares passiert ist. Und es gibt darauf natürlich keine befriedigende Antwort. Wichtig ist, sich auch selbst zu befragen: Woher kommt die Frage? Geht es mir um Sinn? Es gibt Menschen, die auch nach tragischen Ereignissen für sich einen Sinn daraus ziehen können. Andere lernen, damit umzugehen, dass auch Dinge passieren, die keinen Sinn ergeben. Das ist ganz verschieden. Oder geht es bei der Frage um etwas anderes? Um meinen Schmerz, um Ohnmacht oder Wut? Versuchen Sie, am besten im Gespräch mit jemandem, dem Sie vertrauen, Ihren Gefühlen auf die Spur zu kommen.
Bei Fredi und Erika Herberts Sohn kam schwerste Alkoholsucht dazu. Die Eltern versuchen, sich keine Vorwürfe zu machen. Wie setzt man sich da am besten damit auseinander?
Der Umgang mit Schuld ist in der Trauer ein grosses Thema. Es ist gut, hier zwischen dem Gefühl der Schuld und der Realität der Schuld zu unterscheiden. Hätte man wirklich helfen können? Hätte er oder sie das überhaupt zugelassen? Bei einem ‹Realitätscheck› wird häufig klar: Man hat damals das Bestmögliche gemacht. Aber Selbstvorwürfe sind sehr belastend. Manchmal kann es auch helfen, dem Verstorbenen einen Brief zu schreiben, um sich zu entschuldigen oder Ungesagtes noch zu formulieren.
Was hilft sonst?
Meiner Erfahrung nach ist es für die erste Zeit besonders wichtig, Menschen zu haben, mit denen man reden kann, die da sind und einfach zuhören. Wenn sich der erste Schock und Nebel legt, kann man versuchen rauszufinden, in welchen Momenten man sich ein wenig leichter fühlt: Vielleicht beim Spazierengehen, beim Sport oder beim Klavierspielen? Es kann helfen, sich bewusst Trauerzeiten zu nehmen und dann auch wieder Ablenkungsaktivitäten zu unternehmen, Dinge zu tun, bei denen man sich etwas leichter fühlt. Manchmal empfehle ich meinen Klienten, ein Erinnerungsbuch zu gestalten: Mit Fotos der verstorbenen Person und eigenen Notizen zum Erlebten. Die Liebe zum Menschen, der gestorben ist, bleibt, und es ist wichtig, diese Zuneigung weiterhin zu pflegen.
Das Interview mit Trauercoach und Pfarrerin Anja Niederhauser (40), führte Flavia Schlittler.
BLICK: Wie können Eltern je verkraften, dass ihr Kind gestorben ist?
Anja Niederhauser: Ein Kind zu verlieren, ist unsagbar schmerzhaft. Es widerspricht dem Lauf der Natur. Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind, und es zu verlieren, ist für die meisten Eltern das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ich denke, die Trauer und die Sehnsucht bleiben. Mit der Zeit verändert sich die Trauer, und es können auch schöne, tröstliche Erinnerungen wieder Platz haben. Wichtig ist, sich Zeit zu lassen.
Was ist da zentral, was soll man meiden?
Zuerst einmal geht es darum, zu trauern und den Schmerz zuzulassen. Sich mit Menschen zu treffen, die einem zuhören und keine guten Ratschläge geben. Manche Elternteile trauern ganz verschieden und haben unterschiedliche Strategien, damit umzugehen: Da ist es wichtig, sich nicht aus den Augen zu verlieren in der Trauer. Miteinander im Gespräch zu bleiben, vielleicht miteinander zu besprechen: Was tut dir gut, und was tut mir gut. Sich gegenseitig Schuld zuzuschieben, ist sicher etwas, was man vermeiden sollte. Es vergrössert den Schmerz noch.
Das quälende Warum, wird man das jemals los – und wenn ja, wie?
Die Menschen gehen mit dieser Frage sehr unterschiedlich um. Die einen ringen lange mit dieser Frage, bei anderen kommt sie nie auf. Wenn uns etwas derart Schmerzliches passiert, ist die Frage, finde ich, berechtigt, sie drückt aus, dass für uns etwas Sinnloses, Unfassbares passiert ist. Und es gibt darauf natürlich keine befriedigende Antwort. Wichtig ist, sich auch selbst zu befragen: Woher kommt die Frage? Geht es mir um Sinn? Es gibt Menschen, die auch nach tragischen Ereignissen für sich einen Sinn daraus ziehen können. Andere lernen, damit umzugehen, dass auch Dinge passieren, die keinen Sinn ergeben. Das ist ganz verschieden. Oder geht es bei der Frage um etwas anderes? Um meinen Schmerz, um Ohnmacht oder Wut? Versuchen Sie, am besten im Gespräch mit jemandem, dem Sie vertrauen, Ihren Gefühlen auf die Spur zu kommen.
Bei Fredi und Erika Herberts Sohn kam schwerste Alkoholsucht dazu. Die Eltern versuchen, sich keine Vorwürfe zu machen. Wie setzt man sich da am besten damit auseinander?
Der Umgang mit Schuld ist in der Trauer ein grosses Thema. Es ist gut, hier zwischen dem Gefühl der Schuld und der Realität der Schuld zu unterscheiden. Hätte man wirklich helfen können? Hätte er oder sie das überhaupt zugelassen? Bei einem ‹Realitätscheck› wird häufig klar: Man hat damals das Bestmögliche gemacht. Aber Selbstvorwürfe sind sehr belastend. Manchmal kann es auch helfen, dem Verstorbenen einen Brief zu schreiben, um sich zu entschuldigen oder Ungesagtes noch zu formulieren.
Was hilft sonst?
Meiner Erfahrung nach ist es für die erste Zeit besonders wichtig, Menschen zu haben, mit denen man reden kann, die da sind und einfach zuhören. Wenn sich der erste Schock und Nebel legt, kann man versuchen rauszufinden, in welchen Momenten man sich ein wenig leichter fühlt: Vielleicht beim Spazierengehen, beim Sport oder beim Klavierspielen? Es kann helfen, sich bewusst Trauerzeiten zu nehmen und dann auch wieder Ablenkungsaktivitäten zu unternehmen, Dinge zu tun, bei denen man sich etwas leichter fühlt. Manchmal empfehle ich meinen Klienten, ein Erinnerungsbuch zu gestalten: Mit Fotos der verstorbenen Person und eigenen Notizen zum Erlebten. Die Liebe zum Menschen, der gestorben ist, bleibt, und es ist wichtig, diese Zuneigung weiterhin zu pflegen.
Das Interview mit Trauercoach und Pfarrerin Anja Niederhauser (40), führte Flavia Schlittler.