Ich war sieben Jahre alt, als ich mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder in der Alpinen Kinderklinik in Davos vor einem älteren, grauhaarigen Arzt sass. Über ihm hing ein grosses Kreuz. Meine Mutter begann zu weinen, und ich wusste nicht so recht, warum. Er verkündete ihr schonungslos, dass ich und mein Bruder an der Erbkrankheit Cystische Fibrose leiden würden, einem Leiden, das die Lunge mit einem zähen Schleim verstopft und zu einem quälenden Husten führt. Wir würden beide noch ein paar Jahre leben, aber kaum das Erwachsenenalter erreichen.
Wir verliessen die Klinik verwirrt, ratlos, traurig. Wir konnten da noch nicht ahnen, dass dieses Ereignis später zu einer starken Bindung in unserer Familie führen würde. Dass jener Tag, diese Krankheit, Teil eines Aufbruchs wurde. Zu einer Chance.
«Das Vorgehen von Atifete B. betrübt mich zutiefst»
Ich bin heute 55 Jahre alt, davon bald fünf Jahre lungentransplantiert, und ich freue mich jeden Tag darüber, dass ich leben darf. Meine Mutter und mein Vater haben mich auf meinem Weg zur Matura, zu einem Germanistikstudium, zur Gründung einer Familie mit einer wunderbaren Frau und zwei Kindern, immer unterstützt. Ich könnte ihnen höchstens den Vorwurf machen, dass sie oft viel forderten, weil sie die Krankheit von uns Brüdern als Schicksal verstanden, die mit Wille bezwungen werden kann. Meine Eltern waren diesbezüglich streng mit uns, und so sind wir beide trotz einer schweren Krankheit unseren Weg gegangen und haben hundert Prozent gearbeitet – ich bis kurz zur Lungentransplantation.
Doch was würde ich über meine Eltern denken, wenn sie meinen Bruder und mich als Schaden betrachtet hätten? So wie die Bernerin Atifete B., die von ihrer Frauenärztin eine Million Franken fordert, weil auch ihr zweites Kind von diesem Erbleiden betroffen ist. Ich kann nicht beurteilen, wer in ihrem Fall in jener Arztpraxis was genau sagte, ob die Ärztin tatsächlich den Test verwehrte oder ihn die Mutter gar nicht wollte. Doch das Vorgehen von Atifete B. betrübt mich als Betroffener zutiefst.
«Eine Million hilft nicht»
Mich wühlt es auf, wenn Eltern Vorwürfe dieser Art gegen Ärzte erheben. Sie sind nicht nur schädlich für das betroffene Kind, sie sind auch ungerecht – unserem Staat, unseren sozialen und medizinischen Einrichtungen gegenüber. Ein Kind mit Cystischer Fibrose wird vermutlich bald mit einem Medikament behandelt, welches 150'000 Franken pro Jahr kostet. Dazu kommen viele weitere Medikamente und am Ende vermutlich eine teure Lungentransplantation.
Ein Mensch, der wie ich jeden Tag das Leben atmen darf, kriegt in der Schweiz für diese Lebensqualität viel geschenkt. Wir müssen hier von einer Millionensumme reden. Dafür bin ich sehr dankbar. Atifete B. sollte es auch sein. Ich wünsche ihr, dass ihre Kinder keinen Schaden nehmen und die Liebe einer Mutter spüren dürfen, die sie auf ihrem nicht immer einfachen Lebensweg wärmt. Eine Million hilft ihr dabei nichts. Kranke Kinder sind kein Familienschaden.