BLICK: Gratulation zum Geburtstag! Ab heute Dienstag erhalten Sie die AHV. Nehmen Sie sie an?
Bernhard Russi: Ich habe mich stark mit dem Thema befasst. Wenn ich ganz darauf verzichte, bringt das gar nichts. Die AHV wird sowieso an mir verdienen, weil ich gar nicht so lange lebe, wie ich dafür einbezahlt habe. Ich habe für mich ein Privatbudget gemacht. Ab heute sind 28 320 Franken im Budget für wohltätige Zwecke. Die erste AHV-Rente spende ich jemandem, an den ich denke, sobald sie überwiesen ist. Vielleicht ist es ein Bergbauer, vielleicht eine Organisation.
Wie lange wollen Sie noch arbeiten?
Mein nächstes Projekt ist der Pistenbau für die Olympiade in Korea 2018. Und es ist mein Ziel, meine Lebensqualität zu verbessern, damit ich meine Träume erfüllen kann. Ich möchte in die Berge von Südamerika und noch viele Expeditionen machen. Wie und wo ich mich einschränke, werde ich entscheiden, wenn es für mich so weit ist.
Wie feiern Sie Geburtstag?
Es ist Tradition, dass ich an meinem Geburtstag eine Bergtour mache. Diesmal zieht es mich zur Tüfelstalwand in der Schöllenen bei Andermatt.
Was wünschen Sie sich?
Gesundheit. Doch noch wichtiger als meine eigene ist mir die Gesundheit meiner Liebsten.
Was machen Sie für die Gesundheit?
Eine Kombination aus Bewegung und Ernährung. Ich habe früh begonnen, auf meinen Körper zu hören. Es gibt Zeiten, da esse ich fast kein Fleisch. Wenn ich dann plötzlich ein Riesensteak vor meinem geistigen Auge sehe, weiss ich, dass mir ein gewisses Protein fehlt. Wichtig ist, dass man in allem ausgeglichen ist. Ich war nie ein Klosterschüler. Es ist auch heute nicht so, dass ich keinen Alkohol trinke, doch meistens mit sehr viel Mass.
Waren Sie schon betrunken?
Ja, zwei, dreimal. So wie ich das Leben anschaue, darf man auch mal über die Schnur hauen. Damit man seine Grenzen kennt, muss man manchmal darüber gehen.
Wann haben Sie das letzte Mal über die Schnur gehauen?
Das ist etwa zwanzig Jahre her, es war an einem Krebsessen in Schweden. Nach jedem Krebs gabs einen Aquavit.
Was war Ihr schönster Sieg?
Einerseits mein Jugend-Skimeistertitel mit 14 in Andermatt. Abends durfte ich mit dem schönsten Mädchen tanzen. Und Olympia 1972 in Sapporo.
Suchen Sie noch den Adrenalinkick?
Ja. Ganz ehrlich, ich habe meine Startnummer immer noch nicht abgezogen. Wenn jemand 100 Meter vor mir Velo fährt, muss ich ihn überholen, auch wenn ich übers Limit gehe. Es ist das Adrenalin und das Erfolgserlebnis.
Was sind rückblickend Ihre Highlights und Tiefpunkte?
Absolute Highlights waren die Geburten meiner beiden Kinder Ian und Jenny. Ich hatte das Glück, bei beiden dabei sein zu dürfen. Es gibt nichts Vergleichbares. Es ist die Beziehung zur Frau und das Wunder des Menschen. Tiefpunkt war das Gegenteil. Als mich meine Frau Mari anrief, um mir mitzuteilen, dass Michelle, die Mutter meines Sohns, in einer Lawine ums Leben kam, und ich es Ian mitteilen musste. Das wünsche ich niemandem, auch wenn es zum Leben gehört. Oder als der Arzt meines Vaters mir sagte, er würde noch höchstens ein halbes Jahr leben.
Nächstes Jahr sind Sie mit Ihrer Frau 30 Jahre zusammen. 2009 kam die Trennung, seit drei Jahren sind Sie wieder zusammen. Was ist heute anders?
Die Trennung war für uns beide pickelhart, ich ging durch die Hölle. Wir haben viel daraus gelernt. Schauen zueinander, gehen aufeinander ein, machen viel gemeinsam. Zum Glück lieben wir beide die Berge, die raue See in Schweden und anderes. Vor fünf Jahren haben wir Salsa-Unterricht genommen, ich habe sogar zwei Diplome (lacht). Wir haben gelernt, das zu machen, was uns Spass macht.
Wovor haben Sie Angst?
Wer wie ich als Bergler aufgewachsen ist, hat immer eine Grundangst. Ich wuchs auf mit Lawinen, Überschwemmungen, Steinschlägen. Mein Vater war Bahnmeister. Als Bub hatte ich Angst, dass er abends nicht nach Hause kommt. Die Angst um meine Lieben ist geblieben.
Was bereuen Sie?
Dass ich als Aktiver zu viel Zeit mit Jassen verbrachte, anstatt ein Buch zu lesen.
Was lesen Sie gerade?
«Homo Faber» von Max Frisch und parallel drei weitere Bücher.
Könnte irgendwann noch ein Kind von Ihnen auftauchen?
In der Theorie ist das möglich. Ich hatte nicht nur zwei Frauen in meinem Leben, ich war kein Kostverächter (lacht). Und man nahm alles viel lockerer. Er oder sie wäre mindestens 45 Jahre alt. Ganz ehrlich, fast jeder Mann in meinem Alter müsste diese Antwort geben.
65 Jahre Bernhard Russi. Was ist Ihr Resümee?
Das Leben hat es gut gemeint mit mir. Ich war meist auf der Sonnenseite. Deshalb geniesse ich die schönen Momente und akzeptiere aber auch die anderen, weil sie die schönen noch schöner machen.
Haben Sie ein Lebensmotto?
Ja. Du darfst nie aufhören, dich an die Grenzen zu tasten, weil sie sich automatisch verschieben.