«80 Shows pro Jahr seit Mitte der 80er – irgendwie wollte ich alle meine Vorstellungen in der Schweiz festhalten. Schriftlich in meinem Tagebuch? Das wird schnell langweilig. So habe ich angefangen, die Garderoben zu fotografieren, in denen ich mich vor und nach den Auftritten aufgehalten habe. Zusammengerechnet habe ich in diesen Räumen mit meinen Bühnenpartnern fast ein halbes Jahr verbracht. Von der Bühne aus gesehen gleichen sich viele Auftrittsorte, und ich weiss oft nicht mehr, welcher Saal das gewesen ist. Aber die Garderoben sind charakteristisch, und ich weiss sofort: Ah, das war dort.
Ich habe nicht professionell nach einem Konzept geknipst. Die Fotos sind mehrheitlich Schnappschüsse, ich habe sie nicht speziell inszeniert: Wenn eine Früchteschale hinter meinem Rücken war, habe ich sie nicht ins Bild gerückt. Wichtig ist einfach: Es dürfen nie Menschen darauf zu sehen sein – die lenken nur ab. Um die absolute Wahrheit einer Garderobe aufzuzeigen, muss sie leer sein; dadurch bekommt sie etwas Trostloses. Im Buch ‹Bin gleich zurück›, das Stephan Pörtner vor sechs Jahren über mich gemacht hat, habe ich eine Auswahl dieser Garderobe-Fotos auf vier Doppelseiten publiziert – das Echo der Leser war riesig.
Danach habe ich diese Fotos als Diashow bei meinen Lesungen gezeigt. Einmal sass A. C. Kupper im Publikum. Er kam später auf mich zu und sagte: ‹Ich will diese Fotos unbedingt veröffentlichen.› Der Startschuss zu einem zweijährigen Projekt. Meine Sammlung umfasst gegen 800 Fotos. Davon haben wir für den Bildband knapp 250 Bilder ausgewählt. Sie sind nach Auftrittsorten alphabetisch angeordnet, von A wie Aarau bis Z wie Zürich. Wir hätten mit dem hässlichsten Raum beginnen können und dann immer schönere zeigen können – das wäre auch ein Konzept gewesen. Aber das wollten wir bewusst vermeiden. Wir wollen nicht werten, deshalb habe ich die Fotos auch nicht datiert: Es soll nicht ein Jahrzehnt gegen das andere ausgespielt werden. Es gibt Garderoben, die ich in den gut 30 Bühnenjahren schon drei bis vier Mal besucht habe. Da will man die Fotos vergleichen: Wie war das früher, wie sieht das heute aus? Doch solche Vergleiche lenken nur ab.
Das soll ein Buch zum Anschauen sein. Ich habe die Schnappschüsse deshalb nicht kommentiert. Wenn man keine Worte braucht, um etwas zu zeigen, dann ist das für mich die höchste Kunst. Auch in der Schauspielerei ist jede Aussage, die man mit Geste und Mimik ausdrücken kann, stärker als ein gesprochener Satz. Das Kommentieren soll dem Betrachter überlassen bleiben. Natürlich könnte ich zu vielen Fotos Anekdoten erzählen: In den Garderoben gab es schon Freudenfeste, Streit und Sex. Wenn das Ensemble zurückgezogen unter sich ist, geht es häufig direkter zu und her als in Momenten, in denen der Veranstalter dabeisteht, dem man sich verpflichtet fühlt.
Ich reagiere sehr stark auf Stimmungen – damit ich gut arbeiten kann, schaue ich auf die richtige Beleuchtung und eine aufgeräumte Atmosphäre. Der Veranstalter trägt das Seine zum Gelingen bei: Begrüsst er einen freundlich und weist auf die Getränke im Kühlschrank hin, ist das etwas anderes als ein kalter, leerer Raum, in dem bloss ein Teller mit Biberli auf dem Tisch steht. Wenn eine Fleischplatte serviert wird, dann weiss man, dass da normalerweise Rockmusiker auftreten. Zu Beginn meiner Bühnenkarriere haben wir vor der Vorstellung noch Alkohol getrunken – inspiriert von Rolling Stones und Co., die Whisky-Gelage abhielten. Aus Blödsinn haben wir jeweils einen bestimmten Blauburgunder aufs Zimmer bestellt. Ich weiss nicht, wie wir das früher geschafft haben. Heute kann ich vor der Vorstellung nicht einmal ein Bier trinken.
Beim nüchternen Betrachten der Garderoben kommt mir häufig ein Satz meines Vaters in den Sinn. Immer, wenn wir zu Hause einen Gegenstand aussortieren, aber nicht gleich wegwerfen wollten, sagte meine Mutter: ‹Das können wir noch in der Ferienwohnung unterbringen.› Darauf er: ‹Nein, nein, das ist keine Gerümpelkammer.› Garderoben gleichen oftmals solchen Gerümpelkammern. Die Veranstalter denken wie meine Mutter, dass sich dieses und jenes Möbel in diesen Räumen unterbringen lässt. Dadurch stehen dort Sachen zusammen, die hinten und vorne nicht zusammenpassen. Schlimm sind gestapelte Stühle in der Garderobe – dann weiss man schon vorher, dass die Aufführung nicht ausverkauft ist.
Das Allerschlimmste sind Garderoben, die keine eigene Toilette haben. Dann muss man die benutzen, auf die auch das Publikum geht – und warten, bis alle im Saal sind, damit sich nicht schon vor dem Auftritt die Wege kreuzen. Eine Garderobe sollte mindestens fliessendes Wasser, einen Spiegel und eine Heizung haben. Und möglichst einen direkten Zugang zur Bühne. Wenn die Garderobe weiter weg ist, müssen sich Schauspieler, die Auf- und Abgänge haben, während ihrer Bühnenabsenz hinter der Kulisse verstecken. Einmal, bei einer Vorstellung in Luzern, brachten wir die Kulisse knapp rein, sodass dahinter kein Versteck mehr blieb: Die Schauspieler mussten von der Bühne nach draussen. Und es regnete – so gingen die Kollegen trocken ab und kamen nass zurück.
Einen nicht ganz trockenen Eindruck machte ich einmal bei einer Lesung im Café Mokka in Thun. Der italienische Bitterlikör-Hersteller Cynar war mein Sponsor und wollte auf der Bühne präsent sein. Was tun? Ich ging in eine Apotheke, kaufte braune Lebensmittelfarbe, mit der ich Wasser färbte, das ich dann in die Flasche füllte. Ich habe während der Lesung die ganze Cynar-Flasche ausgetrunken. Pädu Anliker, der legendäre, vor über einem Jahr unerwartet früh verstorbene Betreiber des Café Mokka, kam anschliessend auf mich zu und sagte bewundernd: ‹Läck, da sind schon viele standfeste Musiker aufgetreten, aber das habe ich noch nie erlebt, dass einer eine ganze Cynar-Flasche geleert hat – und dann hast du auch noch gelesen, ohne zu lallen.›
Den Trick mit der Lebensmittelfarbe hat Pädu anschliessend irgendwo an der Garderobenwand verewigt – dort sind viele Zitate und Fotos von Aufgetretenen zu sehen, die eine solche Geschichte haben, auf die man ohne Erklärung nicht kommt. Diese Garderobe ist eigentlich ein Museum, das man schützen müsste. Sie ist mit ihrer anekdotenreichen Wand das Gegenteil von Feng Shui – dabei sollte ein Bühnenkünstler in einer Garderobe in erster Linie zur Ruhe kommen.»