Ist es möglich, dass ein gerade mal 20-Jähriger über Menschen und ihre Beziehungen schreibt wie ein reifer Mann mit viel Lebenserfahrung? Diese Frage stellte sich, als Benedict Wells 2008 seinen Roman «Becks letzter Sommer» herausbrachte. Damals war der gebürtige Münchner als jüngster Autor beim Zürcher Diogenes-Verlag unter Vertrag.
Auch die folgenden Bücher vermittelten den Eindruck ungewöhnlicher Weitsicht und Tiefgründigkeit - besonders der Roman «Vom Ende der Einsamkeit», der 2016 als Bestseller in 37 Sprachen übersetzt wurde. Nun legt Wells mit «Hard Land» ein Werk vor, das ihm wie angegossen passt. Zumindest entspricht es seinem jungenhaft verletzlichen Äusseren; dabei ist er inzwischen weit über 30.
Die Details im neuen Roman «Hard Land"
Sam ist 15. Sam ist einsam. Sein Vater ist arbeitslos, die Mutter krebskrank. Sam ergattert sich einen Sommerferienjob im Kino «Metropolis», das allerdings kurz vor der Schliessung steht. Alles ist schäbig, heruntergekommen. Die perfekte Kulisse für die Songs von Bruce Springsteen, der in den 1980er-Jahren für alle, die sich in ihrem Leben wie im falschen Film fühlten, den Soundtrack schrieb.
So gibt es in dem Jahr, in dem Sam erwachsen wird, auch das «Bruce-Mobil», einen Pickup, in dem Springsteens Musik aus den Boxen dröhnt. Mit voll aufgedrehter Lautstärke und durchgedrücktem Gaspedal lässt Hightower (Afroamerikaner) das Bruce-Mobil auf der Landstrasse über fünf gewaltigen Bodenwellen brettern, während Kristie (sexy Girl mit Grips) und Cameron (schwules Herrensöhnchen) versuchen, auf der Ladefläche so lange wie möglich stehenzubleiben. Es dauert Wochen, bis die drei, die immer im Kino herumhängen, Sam zu dieser Mutprobe auffordern. Natürlich ist es ein Initiationsritual, und der Junge, der sich als Loser fühlte, wird in den Bund der Coolen aufgenommen.
Spiel mir das Lied vom Loser
«Einerseits zerreissts dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weisst, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.» So fasst Kristie das Lebensgefühl «der ganzen scheiss Jugend» zusammen und meint, es müsse ein Wort für dieses Gefühl geben. «Euphancholie» schreibt sie in ihr Notizbuch - und teilt das Wort mit Sam, der ihr längst verfallen ist. «In diesem Sommer verliebte ich mich und meine Mutter starb.» So beginnt der Roman. Und schon da weiss man: das fragile Glück in diesem Buch wird brutal zerschlagen. Doch dies ist nicht das Ende. Den Schlussteil baut Wells zur Bewährungsprobe der Freundschaft auf - leider mit viel Zuckerguss Marke Hollywood.
Benedict Wells - der Popstar der jungen Schweizer Literatur
Tatsächlich hat Benedict Wells sich für «Hard Land» von amerikanischen Coming-of-age-Filmen inspirieren lassen - und von ihrer Tonspur. Wenn es die aktuelle Pandemie zulässt, wird er im Herbst auch mit einem Singer-Songwriter auf Deutschland-Tour gehen. Zusätzliche Station: Zürich. Da lebt Wells, der Popstar der jungen Schweizer Literatur. Dank seiner Mutter hat Benedict Wells neben dem deutschen auch einen Schweizer Pass.
Wells ist kein Waise, und warum er seine Schulzeit in Heimen und Internaten verbracht hat, ist seine Privatsache. Dennoch weist das bei ihm wiederkehrende Motiv der jugendlichen Einsamkeit auf Erfahrungen hin, die zu jener frühen Reife geführt haben mögen, über die man staunt - Satz für Satz. (SDA)
Tina Uhlmann, Keystone-SDA