Der 8. September 2022 ist eigentlich ein Tag wie jeder andere. Um 16.10 Schweizer Zeit geschieht etwas, dass Millionen von Menschen zwar erwartet hätten – und trotzdem scheint es unwirklich, dass Queen Elizabeth II. (1926–2022) nicht mehr lebt. Die Regentin war nicht nur für die Britinnen und Briten die einzige Regentin, die sie je gekannt haben – und auch wenn sie ihr vielleicht nie persönlich begegnet sind, wirkte sie wie eine Mutterfigur und bot einem ganzen Land eine Schulter zum Anlehnen.
Als die BBC den Tod der Queen um 18.30 Uhr Ortszeit verkündet, zieht eine grosse, dunkle Wolke über Grossbritannien und das Commonwealth. Mit sich bringt sie nebst kollektiver Trauer vor allem Unsicherheit darüber, wie sich der neue König Charles III. (74) schlagen würde. Elf Tage nach ihrem Tod wurde die «Mutter der Nation», wie sie oft genannt wird, in Windsor zu Grabe getragen.
Letzte Ruhestätte ist zum Pilgerort geworden
Ein Jahr später macht sich Blick vor Ort ein Stimmungsbild. Im Süden Englands ist es fast doppelt so warm wie vor 365 Tagen. Trotz Rekordtemperaturen reisen Tausende Touristen busweise nach Windsor Castle. Die Burganlage war zu Lebzeiten einer ihrer liebsten Wohnorte, in der St. George's Chapel liegt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Prinz Philip (1921–2021) begraben. Auch der Tag unter der Woche ändert nichts daran, dass es fast unmöglich ist, in der Nähe der Anlage einen Parkplatz zu finden. Durch die Hauptstrasse zieht bei 32 Grad die Wachablösung in schweren Pelzhüten, bewaffnete Polizei sorgt für einen reibungslosen Ablauf. Unzählige Souvenir-Buden am Fusse der Burg verkaufen Puppen, Tassen und Poster der Queen – Bilder des neuen Königs findet man selten.
Mehr zum ersten Todestag von Queen Elizabeth II.
Die Queen ist ein Tourismusmagnet – seit ihrem Tod mehr als je zuvor, schrieb kürzlich der britische «Express». Ihre letzte Ruhestätte ist zu einem Pilgerort geworden: «Zu wissen, wo sie ist und dass ich sie besuchen konnte, ist etwas, das ich schon lange tun wollte», erklärt Peter Gates (77) aus Wokingham sichtlich gerührt, als wir beim Verlassen der Kapelle mit ihm sprechen. In einer Art Prozession ist er direkt hinter uns durch das reich geschmückte Schiff der Kapelle gewandert. Vorbei an den Gräbern von Monarchen wie Henry VII. (1491–1547) oder Edward IV (1442–1483) führt der Weg in einen separaten Raum – und plötzlich wird aus Gemurmel absolute Stille: Ein schlichter, auf dem Boden liegender Stein markiert das Grab der Queen – ein Schild daneben mahnt zur Andacht.
Peter Gates habe sich in diesem Moment an die Königin erinnert: «Sie war mein ganzes Leben da. Sie ist noch immer die Königin von Grossbritannien.» Für Menschen seiner Generation sei es sehr schwer vorstellbar, «dass sie jetzt nicht mehr lebt. Es brauche eine Weile, um sich an Charles zu gewöhnen. King Charles III.: Das klingt irgendwie falsch», lacht der Pensionär. Auch Louise (64) aus Surrey ist nach Windsor gekommen, «um der Königin Respekt zu zollen.» Sie schwelgt gerne in Erinnerungen, gibt aber zu bedenken: «Es ist Zeit, weiterzumachen. Wir haben jetzt einen König. Lange lebe der König!»
Desinteresse und Abneigung
Orts- und Stimmungswechsel: Etwa 35 Kilometer westlich herrscht auch am Ufer der Themse, direkt gegenüber des britischen Parlaments, emsiges Treiben – hier befindet sich allerdings keine letzte Ruhestätte, kein Schild mahnt zur Andacht. Am Südufer des Flusses huschen Londonerinnen und Londoner nach ihrer Mittagspause zurück ins Büro. «Entschuldigung, zur Monarchie habe ich keine Meinung» oder «König Charles III. ist mir egal» hören wir oft, als wir die Leute nach einem Resümee zur einjährigen Regentschaft des neuen Monarchen fragen.
Diese Gleichgültigkeit bestätigt eine Auswertung des Unternehmens für Sozialforschung Ipsos von Mitte August, wonach dem König nur 47 Prozent der Bevölkerung wohlgesinnt sind. «Ich finde das nach dem Tod der Queen, die so beliebt war, nicht erstaunlich», findet Peter Jarred (71) aus London. «Ich bin mit ihr aufgewachsen, von Charles weiss ich fast nichts – die Royals tun momentan relativ wenig, um sich irgendwie nahbar zu machen», fügt Allison (32) aus Schottland an.
In allen Gesprächen, die wir hier führen, schwingen nebst der stetigen Liebe für Elizabeth II. auffälliges Desinteresse und sogar Abneigung für den aktuellen Monarchen mit, «was auch mit der ganzen Sache rund um Camilla und Diana zu tun hat», erklärt Jake (32) aus London. Das Gefühl, das uns an einem schwül-heissen Spätsommertag in London erschleicht, bestätigt schliesslich Leslie Bennett (67) aus Leicester: «Ich finde, er sollte gehen – und Platz für William und Kate machen.»