Neue Horizonte
Berta Thurnherr-Spirig - «Klang verbindet»

Die Geschichtensammlerin und Mundartwortspielerin Berta Thurnherr-Spirig bereist das In- und Ausland mit dem Diepoldsauer Dialekt im Gepäck. Ihre Lesungen ziehen das Publikum in den Bann.
Publiziert: 26.07.2018 um 08:55 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 17:51 Uhr
Berta Thurnherr-Spirig, Geschichtensammlerin und Mundartwortspielerin, sitzt im April 2018 auf einem Grenzstein am Alten Rhein in Diepoldsau SG.
Foto: Keystone/GIAN EHRENZELLER

In der Jubiläumsausstellung «Dear to Me» im Kunsthaus Bregenz wollte der Architekt Peter Zumthor allem, was ihm lieb ist, einen Auftritt gewähren. «Es gibt so vieles, was mir lieb ist, aber ich bin sicher, dass es viele Dinge gibt, die mir auch lieb wären, wenn ich sie denn nur kennen würde», schrieb er in der Begleitpublikation.

Im obersten Stockwerk hatten Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger den wohl fragilsten und poetischsten Garten ihrer langjährigen Zusammenarbeit eingerichtet. In einer Klangperformance ertönte ein Pfeifen wie Vogelgezwitscher und es wurde ein altes Volkslied in einer bearbeiteten Version gesungen. Dann ereignete sich Unerwartetes. Wie ein sich verbindendes Echo erklang eine weitere Frauenstimme, zurückhaltend rein, einnehmend schön, volkstümlich schlicht. Eine Besucherin hatte sich spontan vom Gesang mitreissen lassen.

Wer kennt diese Frau, die sich traut, aus den Konventionen auszubrechen, um gerade dadurch Gemeinschaft zu fördern? Unprätentiös beginnt sie von ihrer Leidenschaft für den Klang, die Stimme, die Sprache und den Dialekt zu erzählen. Sie heisst Berta Thurnherr-Spirig und ist 72 Jahre alt. Geboren wurde sie in Diepoldsau, dem einzigen Dorf im St. Galler Rheintal, das rechts vom kanalisierten Rhein liegt. Seit dem Rheindurchstich von 1923 führt Diepoldsau zwischen dem Alten und dem Neuen Rhein eine Art Inseldasein. Zwei Brücken führen in die Schweiz, zwei Brücken nach Österreich.

Auf dieser «Insel» ist ein höchst eigenwilliger, hörbar melodisch grundierter Dialekt beheimatet, der sich durch eine bemerkenswerte Klangvielfalt auszeichnet. Doch wie andernorts ist auch hier die Verwässerung des Dialekts in vollem Gange. «Erhalten kann man den Dialekt nicht», stellt Berta Thurnherr klar, «aber man kann ihn dokumentieren», was sie eindrücklich demonstriert hat.

Seit 1985 ist sie als Geschichtensammlerin, Geschichtenerzählerin und Mundartwortspielerin aktiv. «Meine Schwester Maria hatte mir ein Tor geöffnet», präzisiert Berta Thurnherr. «Sie brachte alles ins Rollen, wobei wir beide damals noch gar nicht richtig wussten, was wir taten.» Von «Oral History», der gezielten Befragung von Zeitzeugen, sprach in der breiteren Bevölkerung noch kaum jemand.

Berta Thurnherr absolvierte eine kaufmännische Ausbildung, obwohl sie gerne Fremdsprachen gelernt hätte. Doch in den bescheidenen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen war, und wegen ihrer familiären Verpflichtungen als älteste Tochter hätte schon der Besuch der Kantonsschule St. Gallen ein Problem dargestellt.

Ihre Schwester Maria war eher historisch interessiert, schon in der Schulzeit waren ihr Bezüge des Diepoldsauer Dialekts mit mittelalterlichen Sprachformen aufgefallen. Maria erkannte die verborgene Sprachkraft ihrer älteren Schwester, die sie dazu anregte, sich von älteren Einwohnern, Männern und Frauen, Erfahrungen und Erlebnisse aus ihrem (Kriegs-)Alltag in einem Grenzdorf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählen zu lassen.

Auf über vierzig Tonbändern hat Berta Thurnherr gemeinsam mit ihrer Schwester ein einzigartiges Geschichtsdokument gespeichert. Vor drei Jahren hat sie ihren Sammlungsschatz dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich übergeben. «Zur Sprache bin ich durch das Geschichtensammeln gekommen», sagt sie. «Die Mundart hat mich für Wortspielereien und Klangexperimente sensibilisiert.» Zahlreiche eigene Geschichten und Gedichte im «Tippìlzouar» Dialekt sind über die Jahre entstanden.

Im Jahr 2010 kam das Hörbuch «As wöart schù wööara - ma tuat wamma kaa» heraus. Die Tonbandgeschichten hat sie in mühsamer Geduldsarbeit transkribiert. Zwei CDs begleiten die Publikation, die neben den Geschichten aus der Sammlung auch ein Wörterverzeichnis, historische Aufnahmen, schlichte zeichnerische Illustrationen ihres Ehemanns und eigene Texte enthält. Über 320 Lesungen hat die Botschafterin des Diepoldsauer Dialekts bis heute im In- und Ausland bestritten.

Mit Beginn des Geschichtensammelns waren zunehmend eigene, bis anhin unter Verschluss gehaltene Bedürfnisse hervorgebrochen. Berta Thurnherr nahm die Herausforderung an, im fortgeschrittenen Alter noch eine Ausbildung als Kindergärtnerin zu absolvieren. Von 1991 bis 2007 übte sie ihren Beruf der Kleinkindererziehung mit innovativer Kraft und fantasievollen Ideen aus. «Das Singen hat mich durch das Leben getragen», betont sie.

Zahlreiche Lieder haben ihr ihre Eltern als Erbe mitgegeben. Bis heute verfeinert und trainiert Berta Thurnherr die für das Singen so wichtige Atmung. Erst jüngst hat sie mit integrativem Stimmtraining begonnen, um sich von inneren Blockaden zu befreien, die sich über die Jahre eingeschlichen haben.

Seit ihrer Kindheit singt Berta Thurnherr im Kirchenchor, aus Liebe für die spirituelle Tiefe der geistlichen Musik. Die marginale Rolle, die Frauen noch immer in der Kirche spielen, wie auch verfälscht tradierte Glaubenssätze kritisiert sie jedoch scharf. Über eine Radiosendung war sie auf das aramäische Vaterunser gestossen. Dass Jesus Aramäisch gesprochen hatte und durch Übersetzungen viel vom Ursprungstext verlorengegangen war, auch der körperlich-rhythmische Sprechgesang, begann sie zu beschäftigen.

«Klang verbindet», ist Berta Thurnherr überzeugt. «Üsarì Moattar» lauten die einleitenden Worte einer am Aramäischen orientierten Interpretation des Vaterunsers, welches die Diepoldsauerin in ihrem Dialekt verfasst hat und das Eingang in eine jüngst erschienene Anthologie mit 150 Variationen aus 250 Jahren des Gebets gefunden hat. Es zeigt sich, dass die Wurzeln der eigenen Identität breit verankert sind, über Ethnien und Religionen hinweg.

Mittlerweile kommen junge Menschen auf sie zu und fragen nach Texten für eigene Projekte. Sie trat mit Jazzmusikern auf, wirkte bei einer Theaterproduktion mit, sie textet Kinderlieder und hat gerade zusammen mit einer Sängerin, einem Musiker und einem Zeichner, alle eine Generation jünger als sie, ein Bilderbuch für Kinder herausgegeben. Schon zieht es sie wieder an einen Lieblingsort ihrer Kindheit, den Alten Rhein, in den sie eintaucht und inspiriert wieder auftaucht.

Verfasserin: Sabine Arlitt, sfd

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