Neue Horizonte (4)
Bruna Martinelli - «Era così - Es war eben so»

Die Bäuerin und Schriftstellerin Bruna Martinelli ist eine Chronistin des Wandels im Tessin. Sie sagt von sich: «Ich fühle mich als Überlebende.»
Publiziert: 19.07.2018 um 10:36 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 17:12 Uhr
Bruna Martinelli ist Schriftstellerin und Bäuerin und lebt in Avegno TI.
Foto: Keystone/SAMUEL GOLAY

Da steht ein Mädchen auf einem Felsbrocken, mit trotzigem, kühnem Blick, den Rechen in der Hand, sieht sie zum Fotografen und wirkt wie die Verkörperung der französischen Marianne, der Kulturikone der Französischen Republik. Auf die Fotografie aus einem ihrer Bücher angesprochen, lacht die über 90-jährige Bruna Martinelli. «Ich war damals ungefähr 13 oder 14, auch wenn ich älter wirke. Man reifte ja damals schneller als heutzutage.»

Schon als Kinder hätten sie hart arbeiten müssen, erzählt die Autorin. «Schon kleine Mädchen trugen Mist, Holz, Heu und Lebensmittel hoch in die Berge, wo sie das Vieh hüten und versorgen mussten. Mit klammen Händen wuschen sie winters die Wäsche im eisigen Wasser der Maggia.»

Doch sie erinnert sich auch an die kleinen Freuden, etwa wenn sie bei ihrer «Gotte» am Sonntag zum Mittagessen eingeladen war. «Der Duft ihrer Kleider ist mir noch heute gegenwärtig: Sie rochen nach Heu, Äpfeln und nach dem Herdfeuer.»

Bruna Martinelli ist 1926 in Avegno TI geboren. Sie wuchs in einer armen Bauernfamilie auf und ist selbst zeitlebens Bäuerin geblieben. Sie sagt von sich: «Ich fühle mich als Überlebende.» Da sie Bücher immer liebte, führt sie heute noch die Dorfbibliothek. Nun sitzt sie in ihrer Küche an einem jener feuchtkühlen Frühlingstage, an denen die Wolken im Valle Maggia tief zwischen den Felswänden hängen.

Doch Bruna Martinellis Augen glänzen, und ihr Gesicht strahlt, wenn sie von früher erzählt. Von der schweren Arbeit und der strengen Mutter, aber auch von den Streichen, die sie zusammen mit ihren wilden Cousins anstellte. Bei ihnen verbrachte sie viel Zeit. «Unser grösstes Vergnügen war, Kürbisse vor den Zug zu werfen - da spritzte es dann nach allen Seiten, wenn er drüber fuhr.»

«Der Zug» ist die Vallemaggia–Bahn, die das Tal damals mit Locarno verband und die schon lange stillgelegt ist. Bruna Martinelli ist eine Chronistin des Wandels im Tessin - den sie in ihrem Buch «Fra le pieghe del tempo» (In den Falten der Zeit) anhand ihrer Erlebnisse und Porträts aus der kleinen Welt des Valle Maggia poetisch, farbenreich beschreibt.

Sie ist auch eine Chronistin des harten Lebens der Tessinerinnen im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In ihrem zweisprachigen Werk «La forza delle donne - Die Stärke der Frauen» schildert sie anhand von Frauenporträts aus ihrer Verwandtschaft oder Nachbarschaft die Lebensbedingungen der Tessinerinnen jener Zeit. Sie sieht mit klarem und doch liebevollem Blick die «condition feminine», macht die Frauen nicht zu Opfern, sondern gibt ihnen durch ihre Beschreibung Würde und Stärke.

«Obwohl die Frauen in der ländlichen Gesellschaft jener Zeiten, die einige Leute als idyllisch zu betrachten die Stirn haben, wenig bedeuteten, konnte kein Haushalt existieren, wenn da keine Mutter oder Tante oder Grossmutter war, die die Zügel in die Hand nahm.»

Und doch galten die Frauen wenig: «Heutzutage ist oft von der Gleichstellung von Mann und Frau die Rede - meine Grossmutter würde sagen, die Welt sei verrückt geworden; ihrer Meinung nach mussten Frauen gehorchen, arbeiten, sparen und durften nie, gar nie die Hände in den Schoss legen. Ihnen waren die schwersten Bürden und die lästigsten Arbeiten vorbehalten. Viele von ihnen galten kaum mehr als das Vieh im Stall.»

Von Haus aus Bäuerin mit Leib und Seele, war und blieb Martinelli auch immer eine Frau des Wortes, der Belesenheit. Magda, ihre Tochter, erinnert sich nicht nur an die Schönheit ihrer Mutter und wie diese für die Kinder und sich aus dem wenigen, was es gab, schöne Kleider schneiderte, sondern auch daran, dass es immer Bücher im Hause gab - und Malfarben. Auch wenn man im Sommer auf die Alp ging, um das Vieh zu weiden. «Eine meiner schönsten Erinnerungen an sie ist, wenn sie im Stall am Melken war, und ich mich mit meinen ungeliebten Mathematikaufgaben zu ihr setzen konnte, die sie mir, während sich der Milcheimer füllte, dann erklärte.»

Trotz all der harten Arbeit vergass Bruna Martinelli nie die andern Seiten des Lebens. Das drückt sich auch in ihrer Art zu schreiben aus: Wie lebendig da die Schattierungen eines Felsens werden, Gerüche oder Farbenspiele nach einem Sommergewitter, alle Schönheiten in der Natur des Tals, dem sie das Nötigste zum Leben mühsam abringen musste. Ihre Tochter erinnert sich, dass die Eltern oft nur schnell im Stehen assen, um dann gleich weiterzuarbeiten. Bruna Martinelli beklagt sich nicht. «Era cosi - Es war eben so.»

Bruna Martinelli erzählt - nein: sie sprudelt über von Geschichten, wie ein Tessiner Bach nach einem kräftigen Gewitterregen. Dabei hat sie erst vor kurzem zwei Herzinfarkte überwunden. «Doch im Spital wurde ich so liebevoll umsorgt! Es war unglaublich. Dort gehen ja sogar die Türen von selber auf!»

Krank zu sein kannte sie früher nicht. Umsorgt zu sein auch nicht. Es ist noch immer etwas Besonderes. Zum Dank schrieb sie während des Spitalaufenthalts eine Geschichte. Über die unbeliebten Spitalhemden, die man nur hinten schliessen kann.

Sie fasst kurz zusammen: «Eines Tages hat es zwei der Hemden so geärgert, dass sie immer so missachtet werden und jeder über sie klagt. Da haben sie sich in einem unbewachten Moment aus dem Spitalschrank davongestohlen. Und sind nachts durch die Dörfer und Städte gezogen und haben viele Abenteuer erlebt. Und als morgens leuchtend rot die Sonne aufging, erinnerten sie sich, dass sie ja als Baumwolle ursprünglich aus Mexiko kamen, also weitgereist und Weltbürger sind.»

Sie lacht. «Ich hatte schon immer eine blühende Fantasie», sagt sie nicht ganz ohne Selbstironie. Aber dann fügt sie noch hinzu: «Wissen Sie, was das Schönste war an den Herzproblemen? Ich wurde mit dem Helikopter ins Spital gebracht! Ich liebe es so sehr Helikopter zu fliegen, allein dafür hatte es sich schon gelohnt!»

Verfasserin: Barbara Hofmann, sfd

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