Michael Flury steht in seiner Dreizimmerwohnung im Zürcher Kreis 4 - und strahlt. Im hintersten Zimmer bewahrt der Musiker und forschende Komponist die Schätze auf, die seinen musikalischen Kosmos bilden und die er gerne in seiner Nähe weiss. Allen voran: seine beiden Posaunen, die vom Aargauer Blasinstrumentenbauer Thomas Inderbinen mehrfach erhitzt und mit dem Holzhammer verdichtet worden sind.
Im gleichen Raum drängt sich auch ein Grammophon mit wuchtigem goldenen Trichter ins Blickfeld. Erstanden hat es Flury in Hamburg, als hochwertiges deutsches Produkt. Später in der Schweiz stellte sich jedoch heraus, dass der Schellack-Plattenspieler «nur» eine Kopie «Made in India» ist.
Flurys «Liebe auf den ersten Ton» tat dies dennoch keinen Abbruch. Ebenfalls Teil der Sammlung: ein Edison Phonograph, Baujahr 1906. Er ist ein Geschenk der Künstlerin Mara Züst und stammt aus dem Vermächtnis ihres Vaters, des Zürcher Künstlers und Mäzens Andreas Züst. Die dazugehörenden Wachswalzen, auf denen seine eigene Musik aufgezeichnet ist, hält Flury zu seinen Füssen in der Offizierskiste seines Vaters unter Verschluss. Und ebenfalls ein «Oldie», aber noch nicht gleichermassen in die Jahre gekommen, ist der schwarze Kassettenrekorder, den der Zürcher Musiker mit einem «Zum Mitnehmen»-Kleber in einer Nachbarstrasse fand.
Flury fasziniert an seinen Sammlerstücken, dass sie sehr authentische und individuelle Klangfarben erzeugen. «Beim Hören macht dieses historische Rauschen etwas mit uns. Man spürt die Interpreten, als wären sie im Raum.» Die Geräte hätten alle ihre persönlichen Eigenheiten: «Sie geben nicht vor, mehr zu sein, als sie sind.» Das Ur-Verfahren von Edison etwa funktioniert nach wie vor tadellos, und darum wird Flury den Phonographen, der für die Bühne zu filigran ist, auf jeden Fall mit ins Tonstudio nehmen und auf den Wachswalzen wie früher eigene Musik aufnehmen.
Ebenfalls viel früher, um genau zu sein vor 30 Jahren, wollten Flurys Eltern in Otelfingen ZH von ihrem damals fünfjährigen Sohn wissen, welches Instrument er gerne erlernen möchte. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: Posaune. Es sei die Bewegung gewesen, dieses Hin und Her, die das Blechinstrument in seinen Augen klar obenaus schwingen liess. «Die Posaune», so Flury, «ist heute - abgesehen von meinen Eltern und Geschwistern - meine langjährigste Begleiterin.»
Flury und sein Instrument, zusammen sind sie eins. Egal, wo und mit wem er in der Vergangenheit die Bühne teilte - Sophie Hunger, Stephan Eicher: sein Spiel, in dem Druck und Emotionalität auf wundersame Weise zusammenfinden, ist stets bewegend.
Der Posaunist agiert auf der Bühne als autonomes Individuum, das sich in der Interaktion mit anderen und in der Selbstreflexion eine eigene musikalische Identität erschafft. Etwa, wenn er sich live mit dem deutschen Singer-Songwriter Gisbert zu Knyphausen mit ganzem Körpereinsatz und beinahe kindlichem Übermut eine Schneise durch den lauten Gitarren-Rock schlägt oder Wochen später in der Serie «Voyager 3» feinfühlig mit Gitarrist Hank Shizzoe und Drummer Julian Sartorius einen Talk-Talk-Song wiederauferstehen lässt.
Flury klingt immer wie Flury. Einfühlsam und intensiv. Seine Stärke ist, in den verschiedenen Formationen nicht dies oder das zu sein, sondern stets er selbst.
2019 wird in Flurys Biografie als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem er mit drei Jahrtausend umspannenden Produktionen, die grösstenteils rein instrumental sind und in denen die Posaune die Hauptstimme ist, definitiv den Sprung vom Mitmusiker zum Mastermind wagt.
Mit seinem Projekt «Chavín» wird er eine vergangene Kultur wiederbeleben. Bei der Bandformation «Nuborns - Flury und die Nachgeborenen», die mit vielen ihm nahestehenden Mitmusikern aufwartet - Evelinn Trouble, DJ Kay Zee, Roman Bruderer - steht der eigene weltumspannende Musikkosmos von Michael Flury im Mittelpunkt. «Voyager 3» ist ein Musik- und Gesprächsformat, das der Musikschaffende mit dem Berner Gitarristen Hank Shizzoe und der deutschen Regisseurin Verena Regensburger entwickelt hat.
Ausgangslage hier sind die beiden Raumsonden «Voyager 1» und «Voyager 2», die 1977 von der Nasa ins Weltall geschickt wurden und jeweils eine goldene Schallplatte an Bord haben, die mit internationalen Grussbotschaften, Bildern, einer Geräusch-Collage und vor allem Musik vom Leben auf der Erde berichtet.
In der Fluryschen Fortsetzung «Voyager 3» diskutieren die Macher mit zwei geladenen Gästen über eine heutige Auswahl von Musik-, Geräusch-, Gruss- und Bildinhalten für ein eigenes «Golden Update 2020» und vertonen es gleich live auf der Bühne.
Allen drei Projekten ist gemeinsam, dass sie ihre Existenz der sogenannten Pututu, einer Meeresschneckentrompete, verdanken, die Archäologen 2001 in einer unterirdischen Kammer des Chavín-Tempels in Peru gefunden haben. Flury erhielt 2011 die Anfrage von Peter Fux, Kurator der Altamerika-Abteilung des Museum Rietberg Zürich, für die Ausstellung «Chavín - Perus geheimnisvoller Anden-Tempel» auf den dort gefundenen Meeresschneckentrompeten eine Klanginstallation zu komponieren.
Flury sagte zu, reiste mit Fux und dessen Team nach Peru und begab sich in den unterirdischen Gängen des Tempels und an der Seite von peruanischen Musikern auf Spurensuche.
Für Auftraggeber Peter Fux war die Klanginstallation der Höhepunkt der Ausstellung: «Flury hat die Essenz erfasst und übersetzte die Beobachtungen und Erfahrungen treffsicher in eine Klanginstallation. Für mich als Archäologen, der sich nur mit materiellen Hinterlassenschaften beschäftigt, war dies ein einmaliges Erlebnis, gerade so, als würden Tote wieder zum Leben erweckt.»
Und in der Tat: Flury verbindet in seinen aktuellen Produktionen gleichsam Vergangenheit und Jetztzeit, changierend zwischen Fantastik, Intuition und Überliefertem, zwischen Kopf und Bauch.
Als er jedoch in der Doppelrolle Musiker und Mastermind zu scheitern drohte, suchte er eine Mitstreiterin, die den drei Produktionen mit einem konstruktiven Blick von aussen eine dramaturgische Form gibt - und fand sie in der Person von Regisseurin Verena Regensburger. Sie sagt über Flury, dass sie «seine tiefgreifenden Auseinandersetzungen auf allen Ebenen, seine starken Überzeugungen und seine impulsive Begeisterungsfähigkeit» faszinieren.
Im hintersten Zimmer seiner Dreizimmerwohnung nimmt Flury zum Abschied die peruanische Pututu in die Hand und holt noch einmal tief Luft. Dann erklingt ein Urton, der durch Mark und Bein geht und den Boden unter den Füssen vibrieren lässt. Frei nach dem Philosophen Sören Kierkegaard: «Music can only be understood backwards, but must be played forwards».
Flury rollt die Musikgeschichte wahrlich von hinten auf, doch wenn er spielt, dann geraten die diversen Zeitkapseln in Bewegung und beschwören das Unsichtbare in einem archaischen Popentwurf, verwurzelt im Hier und Jetzt.
www.michaelflury.ch
Premièrenwochenende Kosmos, Zürich: Fr. 22.2.2019, Chavín, Sa. 23.2.2019, Nuborns, So. 24.2.2019, Voyager 3
Verfasserin: Judith Wyder, sfd