Herr Schlunegger, der von Ihnen produzierte Männerchor Heimweh hat Beyoncé von Platz eins der Schweizer Album-Charts verdrängt. Was löst das bei Ihnen aus?
Georg Schlunegger: Dass ein Album aus der Schweiz einen amerikanischen Weltstar auf Platz zwei verweist, überrascht mich sehr. Beyoncés Album wurde intensiv beworben, jede Zeitung hat darüber geschrieben. Und trotzdem machte Heimweh das Rennen.
Was mögen die Menschen an dieser Art von Musik?
Ich glaube, dass sich viele in ihr wiedererkennen. Die Heimweh-Welt ist die, in der ich gross geworden bin. Sie ist ländlich, ihre Bewohner haben einen starken Bezug zu den Bergen und zur Landwirtschaft. Die familiären Strukturen sind stark, Kinder wachsen in engem Kontakt mit Cousinen, Cousins, Onkel, Tanten und Grosseltern auf.
Ihr Vater war Elektroingenieur, ihre Mutter Verkäuferin bei einem Juwelier. Das sind nicht unbedingt ländliche Berufe.
Die Verbundenheit mit meiner Heimat Grindelwald ist in meiner Familie trotzdem gross. Das war schon bei meinem Grossvater so. Er ist Anfang der 30er-Jahre in die USA ausgewandert, weil aufgrund der Weltwirtschaftskrise der Tourismus im Berner Oberland zusammengebrochen war. Er wollte Anwalt werden, doch das Heimweh trieb ihn wieder nach Hause.
Sie wohnen heute in Zürich. Das Heimweh nach Ihrem Herkunftsort zeigt sich bei Ihnen in den Liedtexten, die Sie schreiben, und der Musik, die Sie produzieren. Wie sehr entspricht die Schweiz der Alpaufzüge, Schwingfeste und bäuerlichen Grossfamilien der Realität?
Das wird mir oft vorgeworfen: dass ich mit meiner Musik einen Ort beschreibe, den es so nicht gibt. Ich frage mich: Was soll Popmusik anderes tun, als die Hörer in eine andere Welt zu entführen?
Sie sagen aber auch, dass die Hörer sich in Ihrer Musik wiedererkennen. Ist das nicht widersprüchlich?
Meine Musik lebt genau von diesem Spannungsfeld. Man erkennt ein Stück weit Aspekte seines Lebens wieder – aber in einer idealistischen, romantisierten Form.
Bevor Sie Musikproduzent wurden, studierten Sie auf dem zweiten Bildungsweg Geschichte an der Uni Bern. In Ihrer Lizentiatsarbeit, für die Sie die Bestnote erhielten, ging es um die Rechtsprechung im deutschen Nationalsozialismus. Was hat Sie daran interessiert?
Wenn Menschen aus bürgerlichen Verhältnissen extrem werden und sich dem Nationalsozialismus oder Terrorismus verschreiben – das hat mich schon immer fasziniert. Was für Biografien haben sie? Was ist der Auslöser für so eine Wandlung? Gleichzeitig interessiert mich, worin der Mensch Ruhe, Frieden und Geselligkeit findet. Das möchte ich ja auch mit meiner Musik: den Hörern das Gefühl geben, in einer schönen Welt zu leben.
Wo haben Sie Ihre ersten musikalischen Erfahrungen gesammelt?
Ich spielte als Schüler in einer Band – gemeinsam mit Daniel Kandlbauer, der später als «MusicStar»-Kandidat bekannt wurde. In meiner Klasse war ich ein Aussenseiter, weil ich nicht so sportlich war und Wintersport nicht zu meinen Stärken gehörte. Dafür bin ich aufgetreten, wenn die Snowboarder ihre Feste feierten.
Warum haben Sie nicht von Anfang an auf die Musik gesetzt?
Meine Mutter hätte es gern gehabt, wenn ich auf eine Kunstgewerbe- oder Musikschule gegangen wäre. Aber ich habe mich nicht getraut und wollte nicht weg von Grindelwald und meinem sozialen Umfeld. Also habe ich erst einmal eine KV-Lehre bei der Jungfraubahn gemacht, wo auch mein Vater arbeitete. Songs geschrieben habe ich weiterhin. Später – während des Studiums – auch schon für bekannte Gesichter. Francine Jordi zum Beispiel.
Heimweh ist eine Art Casting-Band mit Berufsmusikern wie dem Tenor Bernhard Betschart. Daniel Arnold, ebenfalls Tenor, arbeitet hauptberuflich als Polizist. Auch ein inzwischen wieder verheirateter Witwer ist dabei, der alleine zwei Kinder grossgezogen hat. Wie finden Sie solche Leute?
Ein Kollege von mir war für die Castingshow «The Voice of Switzerland» tätig und hat dort einige Talente entdeckt. Andere Sänger haben mir Leute aus meinem beruflichen Umfeld vermittelt. Wichtig war, dass die Stimmen zusammenpassen.
Das sind Landbewohner mit viel Lebenserfahrung. Wie reagieren die auf jemanden, der in der Stadt wohnt und ihnen sagt, was sie tun müssen?
Das hat von Anfang an gegeigt – wir sprechen dieselbe Sprache und haben im Leben viele Berührungspunkte. Alle drei Monate treffen wir uns für eine Sitzung, an der sie mir aus ihrem Leben erzählen. Daniel Arnold hat einmal von seinem liebevollen Vater gesprochen und gesagt, dass er seine Kinder genau so erziehen möchte. Daraus wurde zum Beispiel der Song «Üs alte Ziite». Oder ich schöpfe aus meinem eigenen Leben. Mein Grossvater und mein Onkel waren professionelle Bergführer. Das war die Inspiration für «Vom Gipfel is Tal».
Seit 2014 sind Sie Miteigentümer der Musikproduktionsfirma Hitmill. Mit Acts wie Stubete Gäng, Megawatt, Stress, Eliane und dem Kinderchor Schwiizergoofe haben Sie rund 900'000 Tonträger verkauft, fünf Swiss Music Awards und drei Prix Walo gewonnen. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen eines Tages nichts mehr einfällt?
Ich kenne keinen kreativen Druck, weil ich mich von alltäglichen Dingen inspirieren lasse. So habe ich täglich Ideen für neue Songs. Wenn eine meiner Töchter abends ins Bett sollte und sagt, dass sie überhaupt noch nicht müde sei, wird daraus vielleicht ein Song für die Schwiizergoofe. Ich glaube, das ist eine meiner Stärken: dass ich dem Naheliegenden viel Raum gebe.
Während der Pandemie haben die Schwiizergoofe mit «Wenn i di wieder gseh» einen Song veröffentlicht, in dem sich Kinder an ihre Grosseltern wenden, die sie wegen Corona nicht mehr sehen durften. Auch diese Idee ist naheliegend.
Sie stammte von Nikol Camenzind, mit der ich die Schwiizergoofe gemeinsam produziere. Ich habe dann zusammen mit ihr die richtigen Worte gesucht und die passende Musik komponiert.
Manche Eltern sind genervt von den Songs der Schwiizergoofe, die sie gemeinsam mit Nikol Camenzind produzieren. Können Sie das nachvollziehen?
Wenn mich Eltern, die mich nicht kennen, nach meinem Beruf fragen, und ich sage, dass ich unter anderem die Schwiizergoofe produziere, höre ich oft: «Ach, du bist das.» Das hat dann manchmal einen vorwurfsvollen Unterton. Ich verstehe, dass sich die Songs, wenn sie rauf und runter gehört werden, für Erwachsene irgendwann abnutzen. Nicht zuletzt deshalb machen wir jedes Jahr ein neues Album mit frischen Liedern.
Heimweh hiessen früher Schluneggers Heimweh. Sie sangen mit und spielten Gitarre. Warum sind Sie in den Hintergrund getreten?
Ich habe gemerkt, dass die Bühne nicht meine Welt ist. Ich blühe nicht auf, wenn ich vor Menschen auftrete, wie das die Sänger von Heimweh tun.
Das merkt man, wenn man sich das Video vom ersten Heimweh-Auftritt in der Sendung «Donnschtig-Jass» aus dem Jahr 2016 ansieht . Sie wirken angespannt.
Bei diesem Auftritt kam hinzu, dass es in Strömen regnete und ich nicht einschätzen konnte, wie die Musik ankommen würde. Am nächsten Tag wurden wir vom Interesse überrannt. Wir haben das Album im Selbstvertrieb herausgebracht. Alle halfen mit. Meine Frau hat am Telefon Bestellungen entgegengenommen, mit dem Baby im Arm. In drei Wochen haben wir 10'000 Alben verkauft.
Ihre Frau Olivia El Sayed schreibt in der «NZZ» wöchentlich über die Geschichte ihrer Eltern. Ihr Vater war Ägypter und kam als Saisonnier in die Schweiz, ihre Mutter war eine Primarlehrerin aus Pfungen im Zürcher Weinland. Wie Sie scheint auch Ihre Frau unterschiedlichste Welten in sich zu vereinen.
Das stimmt. Ich habe mit ihrem Vater viel über Sehnsucht nach gesprochen. Er wuchs auf einem Bauernhof ausserhalb Kairos auf. Eine seiner Kindheitserinnerungen drehte sich um Fallobst in Form von Orangen, die er auf dem Heimweg von der Schule vom Boden aufgelesen hat.
Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?
An den Swiss Music Awards im Jahr 2014. Sie war damals auch im Musikgeschäft tätig und arbeitete für ein Hip-Hop-Label. Es hat sofort Klick gemacht. Schon am nächsten Tag haben wir abgemacht und gemeinsam Matthias Reim gehört. «Verdammt, ich lieb' Dich» und so. «Reim 1» ist bis heute eines unserer Lieblingsalben. Meine Frau kennt – wie ich – keine musikalischen Grenzen. Wenn man sich intensiv mit Sound befasst, findet man fast in jedem Stil etwas Interessantes.
Dieses Interview wird am Sonntag des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes erscheinen, das dieses Jahr in Pratteln, Baselland, stattfindet. Heimweh werden dort unter anderem ihren Song «Schwingerhärz» zum Besten geben. Sind Sie vor Ort?
Absolut. Ich war vergangenen Samstag schon am Konzert der Büetzer Buebe im Letzigrund, obwohl ich erst gerade aus den Ferien in Korsika nach Hause gekommen bin. Mit Trauffer habe ich schon zusammengearbeitet, mit Gölä nicht.
Warum eigentlich nicht?
Ich bin ein riesiger Göla-Fan und habe mich bis jetzt noch nicht getraut, ihn zu fragen. Das dürfen Sie ruhig so schreiben. Vielleicht liest er es ja.
Georg Schlunegger schrieb unter anderem Songs für Florian Ast, Trauffer, die Stubete Gäng, Coop und Migros. Mit seinem erfolgreichsten Projekt, Heimweh, veröffentlichte er jüngst das Album «Freiheit». Es ist die vierte Top-1-Platzierung des zwölfköpfigen Männerchors, der in sechs Jahren fünf Alben herausbrachte. Schlunegger wuchs in Grindelwald BE auf, spielte in diversen Schüler- und Studentenbands und schrieb als Student Songs für Francine Jordi. Seit 2010 ist er für die Musikproduktionsfirma Hitmill tätig, gegründet von Musiker Roman Camenzind. Schlunegger wohnt mit seiner Frau und den gemeinsamen Töchtern Elif (7) und Layla (5) in Zürich.
Georg Schlunegger schrieb unter anderem Songs für Florian Ast, Trauffer, die Stubete Gäng, Coop und Migros. Mit seinem erfolgreichsten Projekt, Heimweh, veröffentlichte er jüngst das Album «Freiheit». Es ist die vierte Top-1-Platzierung des zwölfköpfigen Männerchors, der in sechs Jahren fünf Alben herausbrachte. Schlunegger wuchs in Grindelwald BE auf, spielte in diversen Schüler- und Studentenbands und schrieb als Student Songs für Francine Jordi. Seit 2010 ist er für die Musikproduktionsfirma Hitmill tätig, gegründet von Musiker Roman Camenzind. Schlunegger wohnt mit seiner Frau und den gemeinsamen Töchtern Elif (7) und Layla (5) in Zürich.