Jedes Jahr zu dieser Zeit wird mantramässig wiederholt: «Die Dichte an Musikfestivals in der Schweiz ist weltweit unübertroffen». Der Mangel an internationalen Zahlen macht einen Vergleich zwar schwierig. Doch die Angaben der Branchenorganisation SMPA sind generell beeindruckend. Noch nie gab es in der Schweiz mit 2754 so viele Konzerte wie 2023, 18,7 Prozent mehr als 2022. Auch der Bruttoumsatz – 480 Millionen Franken, plus 25,2 – und das Total der Besuchenden – 4,6 Mio., plus 4,6 – hat im Vergleich mit 2022 zugenommen.
Und das Angebot bleibt weiter gross. 2024 sind allein in den drei Sommermonaten rund 140 Festivals geplant, über zehn Events pro Wochenende. Der Saisonauftakt ist geglückt: Am Greenfield Festival in Interlaken BE vom letzten Wochenende wurde der Rekord von 84'000 Besuchenden egalisiert.
Festivals als Tourismusfaktor
Genaue Untersuchungen zu diesem Phänomen gibt es zwar nicht. Doch Professor Jürg Stettler (59), Leiter des Instituts für Tourismuswirtschaft an der Hochschule Luzern, sagt gegenüber Blick: «Festivals sind im Sommer eine der Optionen, sich als Destination zu positionieren und allenfalls zu differenzieren, insbesondere für ein junges Zielpublikum. Gampel wäre ohne sein Festival kaum bekannt, dito Frauenfeld. Die Schweiz ist ein wohlhabendes Land. Viele können sich den Besuch eines Festivals leisten. Dazu kommen die Touristen als weitere Zielgruppe.»
Philippe Cornu (65) vom Seaside Festival in Spiez BE ist seit rund 40 Jahren im Geschäft. Er sagt: «Wir sind in der Regel sehr pflicht- und qualitätsbewusst, haben einen Berufsstolz, wollen ‹e gueti Sach abliefere›. Wir sind ein kleiner, eigentlich eher uninteressanter Markt für die Musikwelt und kämpfen oft um ein Konzertdatum in der Schweiz. Daher sind wir eher Gastgeber, die verwöhnen und umsorgen.»
Eine Kernschwierigkeit: Während die Angebotszahl zunimmt, bleibt jene der potenziellen Besuchenden in etwa gleich. Das erhöht den Druck. Zudem ist der Pandemie-Nachholbedarf scheinbar verpufft. Vielerorts läuft der Vorverkauf 2024 harziger als in früheren Jahren, was nicht nur mit dem Wetter zusammenhängt.
Verändertes Publikumsverhalten
Seit Corona beobachten viele Veranstalter ein verändertes Publikumsverhalten. Dies musste kürzlich auch Mundartrocker Gölä (56) mit seinem nun abgesagten Earthbeat-Festival in Buochs NW erfahren. Er sagt gegenüber Blick: «Seit der Pandemie sind viele Leute unverbindlicher geworden und entscheiden kurzfristig.» Und sie haben sich in der Zwischenzeit anderweitig umgesehen. «Nicht nur die jungen Menschen haben die Natur, die eigene Kreativität, die eigenen kleinen Anlässe entdeckt», so Philippe Cornu.
Lena Fischer (35) vom Berner Gurtenfestival sagt: «Die Herausforderungen für Veranstalter sind vielschichtig: Inflation, überall steigende Preise, Wetterphänomene, die Nachwirkungen von Covid und das Kaufverhalten der Besuchenden. Wir arbeiten ein ganzes Jahr lang, der Erfolg des Festivals entscheidet sich jedoch in unserem Fall in vier Tagen. In ganz Europa ist die Club-, Kultur- und Festivalbranche etwas in Schieflage. Die Schweiz hat zwar eine geografisch gute Lage und immer noch eine starke Kaufkraft. Demgegenüber aber auch verhältnismässig wenig Menschen und dadurch kleinere Zielgruppen.»
Und die eingangs genannten Zahlen spiegeln nicht die ganze Wahrheit. Die Publikumswerte bewegten sich bereits vor 15 Jahren auf der Höhe von 2023. Von 2013 an stiegen sie rasant an und erreichten 2019 einen Höchststand von 5,6 Millionen, eine Million über dem Stand von 2023.
Mannigfaltige Probleme
Was Mathieu Jaton (49) vom Montreux Jazz Festival damals sagte, unterstreicht er auch heute: «Festivals, die es nicht geschafft haben, zu einer Marke zu werden, dürften es künftig sehr schwer haben» Konkret: Events mit einer beliebigen Programmstruktur oder einem unklaren Image, und Neulinge.
Dazu kommt die anhaltende Krise in der Musikindustrie. Anstatt mit Geld und Geduld neue Acts aufzubauen, setzen Plattenfirmen oft auf bereits bewährte Bands, was das Festival-Angebot austauschbarer macht. Das ermüdet jene, die eigentlich Geld für einen Besuch ausgeben würden.
Zudem setzen die ganz grossen Bands lieber auf eigene Stadiontourneen, um die ganze Umsatzkette zu kontrollieren. Und weil die Plattenverkäufe weggebrochen sind, steigen die Gagenforderungen. Mehrausgaben, die nur bedingt auf die Ticketpreise geschlagen werden können.
Die Entwicklung in Grossbritannien, die mit leichter Verzögerung jeweils auch in der Schweiz spürbar ist, verheisst wenig Gutes. So sind dort gemäss einem Artikel im «New Musical Express» in den letzten fünf Jahren über 170 Festivals verschwunden. 96 sind mit der Pandemie verschwunden, 2023 fielen weitere 36 weg. Und seit Anfang Jahr haben erneut 40 Festivals eine Verschiebung, Absage oder das vollständige Ende verkündet. Die Hauptgründe: ein dramatischer Anstieg der Betriebskosten und die rückläufige Kaufkraft.
Blick in die Zukunft
Trotzdem bleibt die Schweizer Veranstalterszene optimistisch. «Festivals mit einem treuen Publikum, einer klaren Ausrichtung, mit guter Qualität und dem Vermitteln eines Gesamterlebnisses haben weiterhin gute Aussichten auf Erfolg», sagt Philippe Cornu.
Doch müsse nebst der Musik stetig in folgenden Bereichen investiert werden: Gutes Essens- und Getränke-Angebot, Hospitality, Qualität in der Infrastruktur und Sicherheit, sanitäre Anlagen, einfache An- und Abreise mit dem ÖV, Nachhaltigkeit, Awareness und Inklusion, Ambiente und Deko. «Das Publikum muss die Wertschätzung sehen und spüren und das Festivalgelände mit dem Gefühl verlassen, gerne wieder kommen zu wollen.»
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