«In unserer Heimat ist Krieg, doch auf der Bühne lebt die Kunst weiter»
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Flüchtlingstheater Ukraine:Der Dirigent von Mariupol kommt in die Schweiz

Der Dirigent von Mariupol
«In unserer Heimat ist Krieg, doch auf der Bühne lebt die Kunst weiter»

Noch vor kurzem spielte er im Dramatheater in Mariupol, im März wurde es zerbombt. Jetzt dirigiert Serhiy Burko (67) wieder ein Orchester – auf der Bühne der Aeschbachhalle in Aarau, wo geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Geschichte erzählen.
Publiziert: 22.05.2022 um 10:19 Uhr
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Serhiy Burko (67) ist der ukrainische Dirigent. Noch vor kurzem spielte er mit seinem Orchester im Dramatheater Mariupol.
Foto: Lea Ernst
Lea Ernst

Normalerweise trägt Serhiy Burko (67) seinen Frack, wenn er den Taktstock elegant durch die Luft tanzen lässt. Normalerweise sitzt ihm ein grosses Orchester mit vielen Dutzend Instrumenten gegenüber, das seine Handzeichen kaum aus den Augen lässt.

Heute trägt Burko Jeans und T-Shirt. Sein Frack ist unterdessen wohl verbrannt, sagt er, wie der Rest seines Hab und Guts. Hinter ihm sitzen vier Musikerinnen seines ukrainischen Orchesters auf der Bühne der Aeschbachhalle in Aarau AG. Wie Burko sind sie aus der Ukraine in die Schweiz geflohen. Ihre Geschichte erzählen sie im Theaterstück «L’viv vivid», auf Deutsch «Lemberg lebendig».

Die letzte Sinfonie vor dem Bombenhagel

Vier Jahre ist es her, seit Burko zusammen mit einem Freund die Mariupol Philharmonie gegründet hat. Burko, der eigentlich aus Lwiw kommt, hat eines der letzten Konzerte im Dramatheater in Mariupol dirigiert – Seite an Seite mit seinem Freund. Über tausend Zuschauer seien gekommen, erinnert sich Burko. «Wir spielten die ukrainische Nationalhymne – und alle im Saal sind aufgestanden.»

Im Theater in Mariupol hatten nach Kriegsausbruch Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten Schutz gesucht. In grossen kyrillischen Buchstaben wiesen sie auf dem Vorplatz darauf hin, wer einen grossen Teil von ihnen ausmachte: «Kinder». Trotzdem bombte ein russischer Luftangriff das Theater am 16. März in Schutt und Asche. Etwa 600 Menschen starben.

Burko und seine Frau waren bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch in die Schweiz geflüchtet. Unterdessen wohnen sie in Lugano TI. In der Aeschbachhalle steht Burko nun bei jeder Aufführung gleich doppelt auf der Bühne: live vor dem vierköpfigen Orchester und ein zweites Mal auf der Leinwand dahinter. Die Videoaufnahme zeigt sein letztes Konzert im Dramatheater Mariupol. Damals, als alles noch normal war.

In den Kleidern, in denen sie gekommen sind

25 Musikerinnen, Artisten und Schauspielerinnen erzählen in dem Stück ihre Geschichte. Sie alle sind erst vor wenigen Wochen aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Durch Musik, Tanz und Zirkus-Elemente wollen sie verarbeiten und erzählen, was sie seit Kriegsausbruch erlebt haben. Auf Initiative des Schweizer Regisseurs Dominic Ulli (53) haben sie in nur zehn Tagen ein Stück auf die Beine gestellt.

Der Unterschied zu anderen Theaterstücken: Die Leute auf der Bühne tragen weder Kostüme, noch schauspielern sie. Sie tragen die Kleider, in denen sie in die Schweiz flüchten mussten. Bomben, Sirenen, Mobilmachung: Das Stück beginnt jeweils am 24. Februar mit dem Kriegsausbruch.

Im Zentrum der Geschichte steht die Flucht einer der Frauen der Theatergruppe, deren Mann wenige Tage nach Kriegsausbruch getötet wurde. Im Gedränge vom Bahnhof wird sie von ihrer Tochter getrennt, muss sich allein auf in Richtung Westen machen. In eine ungewisse Zukunft. Die Fluchtgeschichten aller Mitwirkenden fliesst in die Geschichte ein. «Das Stück ist harte Kost», sagt Ulli. «Doch gleichzeitig auch voller unendlicher Liebe und Hoffnung.»

80 Prozent der Einnahmen gehen an ukrainische Kulturschaffende

Jedes Jahr verbringt Regisseur Ulli normalerweise mehrere Monate in der Ukraine, produziert dort Shows. So auch diesen Februar, als der Luftalarm das Land frühmorgens aus dem Schlaf in den Krieg schrillte. Ulli setzte sich ins Auto und verliess die Ukraine so schnell wie möglich.

Da er in der dortigen Kulturszene gut vernetzt ist, baten ihn zurück in der Schweiz bald geflüchtete Kulturschaffende um Hilfe bei der Unterkunft. Für Ulli war klar: «Wenn ich irgendwie helfen kann, will ich helfen.» Auf der Fahrt vom Bahnhof nach Hause, als er gerade einen seiner geflüchteten ukrainischen Bekannten abholte, entstand die Idee zum gemeinsamen Theaterstück.

Nach und nach stiessen weitere ukrainische Kulturschaffende dazu, die in Freiburg, Zürich, Aarau und anderen Orten der Schweiz ein Zuhause auf Zeit gefunden haben. Darunter Artisten, die sonst auch im Cirque du Soleil auftreten. Ulli, der schon seit Jahrzehnten für die Bühne arbeitet, sagt: «Wir mussten eine komplett neue Form des Theaters kreieren.» Die Produktion ist ein Gemeinschaftswerk: Die Betreiber der Aeschbachhalle stellten ihre Bühne kostenlos zur Verfügung. Smartec sponserte die Veranstaltungstechnik.

Ziel der Aufführung: den geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern wieder etwas Halt und ein Einkommen zu geben. 40 Prozent der Einnahmen gehen an die Kunstschaffenden, 20 Prozent an die Produktionskosten. Mit dem Rest sollen nach Kriegsende Kulturinstitutionen in der Ukraine unterstützt werden. «Unser Ziel ist es, möglichst viele Shows durchzuführen, damit die Artistinnen etwas Geld verdienen könnten», so Ulli.

Auf der Schweizer Bühne lebt die Kunst weiter

Für die Gruppe ist es viel mehr als nur ein Theaterprojekt: Vor jeder Probe wird gemeinsam besprochen, was unterdessen in der Heimat und im Leben der Einzelnen geschehen ist. «Ich glaube, ich habe im Leben noch nie so viel geweint», sagt Ulli.

Doch zwischen der unendlichen Trauer gebe es immer wieder kleine Momente der Freude, erzählt Dirigent Burko. Von seinem Freund von der Bühne aus Mariupol hat er über einen Monat lang nichts gehört. «Wir dachten alle, er sei ums Leben gekommen.» Dann die grosse Erleichterung: Er hat es nach Berlin geschafft.

Vergangenen Donnerstag schickte ihm Burko ein Video der Theaterpremiere. «Er weinte und sagte, es fühle sich an, als würden wir wieder zusammen auf der Bühne in Mariupol stehen.» Normal ist für den Dirigenten aus Mariupol und seine Theatergruppe derzeit gar nichts. Sein Ziel ist es, eines Tages wieder mit seinem grossen Orchester in der Ukraine zu spielen. Das Projekt gibt ihm Hoffnung: «In unserer Heimat ist zwar Krieg. Doch auf der Bühne lebt unsere Kunst in der Schweiz weiter.»

«L'viv vivid»: Jeweils ab 20 Uhr in der Aeschbachhalle in Aarau AG, die Daten werden regelmässig auf www.aha.ag/lviv-vivid aufgeschaltet und aktualisiert. Die nächsten Aufführungen finden am 2., 3. und 4. Juni statt.

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